Nach dem Anschlag in Straßburg: Der Schmerz ist zurück: Besuch auf dem Breitscheidplatz
In der nächsten Woche jährt sich zum zweiten Mal der Terroranschlag von Berlin. Ein Besuch auf dem Breitscheidplatz.
Am Dienstagabend ist Brice spät nach Hause gekommen. Es war ein langer, kalter und anstrengender Tag auf dem Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz. Brice hat den Fernseher eingeschaltet, französische Nachrichten, Neues aus der Heimat, die er vor bald 50 Jahren verlassen hat. Es liefen Bilder aus Straßburg, vom Anschlag auf den Weihnachtsmarkt, Tote, Verletzte. Brice hat gleich ausgeschaltet.
In der nächsten Woche jährt sich zum zweiten Mal der Terroranschlag von Berlin. Elf Menschen starben, 55 wurden verletzt, als der Islamist Anis Amri einen gekaperten Sattelschlepper auf den gut besuchten Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz lenkte. Nach 50 Metern blieb der Lkw stehen, gestoppt durch das automatische Blockiersystem. Ziemlich genau an der Stelle, wo Brice gewöhnlich Glühwein verkaufte, nur eben nicht an diesem Abend, „es war mein freier Tag“. Sein Kollege hat Amri auf sich zurasen sehen.
„Der Mann pendelt heute noch zwischen Krankenhaus und Wohnung“, sagt Brice, ein kräftiger Mann mit weißem Haar und dunkler Brille. Bitte kein Foto, sein kompletter Name soll nicht in der Zeitung stehen. „Haben Sie bitte Verständnis, mir geht das immer noch sehr nahe, auch wenn ich selbst gar nicht dabei war.“ Zur Weihnachtszeit legt er jeden Montag Blumen am Mahnmal nieder.
Am Tag nach Straßburg öffnet der Weihnachtsmarkt wie immer vormittags um elf. Einzelne Sicherheitskräfte sind unterwegs. Noch in der Nacht hat die Berliner Polizei beraten, was zu tun ist. Intern ist die Lage angespannt, doch nach außen will das keiner zeigen. Am Morgen sagt ein Sprecher, die Behörde stehe im Kontakt mit dem Bundeskriminalamt. Bislang sei nicht bekannt, dass der Attentäter von Straßburg Verbindungen nach Berlin habe, es seien aber Maßnahmen ergriffen worden. Maßnahmen?
Zunächst wird geprüft, ob die Sicherheitsvorkehrungen ausreichen, ob sie angepasst werden müssen. Aber das heiße nicht, dass mehr Polizisten mit Maschinenpistole patrouillieren. Es gebe auch verdeckte Maßnahmen, Zivilbeamte. Der Sprecher erklärt noch, dass die Terrorgefahr in der Bundesrepublik ohnehin abstrakt hoch sei. Doch die Berliner Polizei gewährleiste gemeinsam mit den Veranstaltern der Weihnachtsmärkte „einen umfassenden Grundschutz“. Innensenator Andreas Geisel (SPD) erklärt: „Wir sind auf die unterschiedlichen Anschlagsszenarien vorbereitet – nicht nur auf Überfahrtaten.“ Es gebe keinen hundertprozentigen Schutz in offenen Gesellschaften: „Wir dürfen uns nicht einschüchtern lassen und unseren Lebensstil ändern.“
Vorweihnachtliche Barriere
Die Stelle, an der Amri am 19. Dezember 2016 gegen 20 Uhr die Hardenbergstraße verließ und auf den Breitscheidplatz durchbrach, ist für den Autoverkehr gesperrt. Stahlgitterkörbe, mit Kies befüllte Kunststoffbehälter, Metallpoller und Betonblöcke sind aufgestellt. Kinderkarussell, China-Imbiss, Lebkuchenstand und Nussknacker aus dem Erzgebirge schließen sich zur vorweihnachtlichen Barriere zusammen. Ente kross geht schon vormittags um elf überraschend gut, der Appetit auf Glühwein hält sich noch in Grenzen.
Direkt vor Brice und seinem Stand befindet sich das vor einem Jahr eingeweihte Mahnmal. Ein Riss durch den Boden, ausgefüllt mit einer goldfarbenen Legierung. Auf der obersten Stufe hinauf zur Gedächtniskirche steht die Inschrift: „Zur Erinnerung an die Opfer des Terroranschlags am 19. Dezember 2016.“ Darunter sind die Namen der Toten eingelassen. Anna und Georgiy. Fabrizia. Lukasz, der polnische Lkw-Fahrer, das zwölfte Todesopfer, von Amri ermordet, weil der es auf seinen Wagen abgesehen hatte. Teelichter beleuchten gerahmte Bilder, Kinderzeichnungen, Blumengestecke. Immer wieder bleiben Passanten stehen.
„Die Leute zeigen großen Respekt, mehr noch als im letzten Jahr“, sagt Brice. „Damals war alles noch zu frisch und die Stimmung aufgewühlt. Wirkliche Trauer braucht ihre Zeit.“