Der Papst in Deutschland: Benedikt XVI. enttäuscht viele Hoffnungen
Viele, die konkrete Ergebnisse wollten, hat der Papst in diesen Tagen enttäuscht. Aber je älter er wird, umso geringer schätzt er alles Lebenswirkliche. Ihm geht es nur noch um Grundsätzliches, um alles oder nichts – auch auf seiner Station in Freiburg.
Der Papst geht ihm bis zur Brust. Winfried Kretschmann muss sich herunterbeugen, wenn er mit Benedikt XVI. spricht. Es ist Tag drei der Deutschlandreise, Samstagmittag, soeben ist der Papst mit dem Flugzeug von Erfurt in Freiburg gelandet. Winfried Kretschmann ist Ministerpräsident von Baden-Württemberg, Grünen-Politiker und: Katholik. Er hat den Papst an der Gangway abgeholt, die Begrüßung war herzlich, der Papst hat lange seine Hände gehalten, und jetzt, während die beiden über den roten Teppich vom Flugzeug zum Flughafengebäude laufen, sieht es so aus, als hätten sie erst gestern zusammengesessen. Es ist auch tatsächlich nicht das erste Mal, dass sie sich begegnen. Kretschmann kennt Joseph Ratzinger schon lange, er hat viel von ihm gelesen, er hat ihn in Rom und in Castel Gandolfo getroffen, und er hat sich an ihm abgearbeitet. Als Ratzinger 2003 als Chef der Glaubenskongregation katholische Politiker aufforderte, sie mögen verhindern, dass homosexuelle Lebenspartnerschaften legalisiert werden, hat er ihm einen Brief nach Rom geschrieben. Er hat ihm erklärt, warum er sich im Gegenteil für die Rechte homosexueller Paare einsetzt – gerade als guter Christ, gerade als guter Katholik.
Kretschmann, aufgewachsen in einem liberalen, katholischen Elternhaus, in dem „frei gedacht und gestritten wurde“, gehört zum katholischen Mainstream in Deutschland. Er ist einer von vielen, die nicht in Jubel ausgebrochen sind, als Ratzinger Papst wurde. Die frei nach Martin Luther selbst denken, statt den Lehren des Papstes zu gehorchen, die diskutieren, Fragen stellen und ernst genommen werden wollen mit ihren Brüchen und Zweifeln. „Wir werden Gottseidank evangelischer“, hat Kretschmann neulich in einem Interview gesagt.
Evangelischer werden? Den Glauben hinterfragen? Das klingt für Benedikt XVI. nach Individualismus und Verflachung – und damit nach Graus und Gräuel. Er fürchtet, dass der Glaube immer weiter verdampft und die Menschheit bald am Abgrund steht, wenn man so etwas zulässt, wenn die individuelle Freiheit schrankenlos wird und sich nicht an etwas Höheres bindet. Die Sorge davor zieht sich durch alle seine Reden und Ansprachen, die er in den vergangenen Tagen gehalten hat. Er ist gekommen, um ihnen noch einmal, wahrscheinlich das letzte Mal, ins Gewissen zu reden, den ewig aufmüpfigen Deutschen. Die zu viel von Luther gelernt haben. In Rom sind sie seit alters her bekannt für ihren Eigensinn. Sie krönten selbstständig Kaiser und ernannten eigenmächtig Bischöfe. Und auch heute noch sind sie der Kurie verdächtig eng mit dem Staat verbandelt sind. Machten sie nicht mit Politikern gemeinsame Sache in der Schwangerenkonfliktberatung? Stehen sie wirklich fest in bioethischen Fragen?
Freiburg ist das Kernland der kritischen Katholiken. Lesen Sie mehr darüber auf der nächsten Seite.
Die Freiburger sind selbstbewusst und engagieren sich. Das Münster haben sie sich selbst gebaut, ohne auf die Unterstützung der Bischöfe zu warten. Als vor fast 200 Jahren das Erzbistum Freiburg gegründet wurde, gab es offen Ärger mit dem Papst. Der lehnte den Bischofskandidaten ab, den sich die Freiburger gewünscht hatten. Zu viel Eigensinn, zu viel Nationales in der Kirche. Hier im Südwesten haben die Katholiken auch im Revolutionsjahr 1848 viele Verbände und Vereine gegründet – ohne Rom zu fragen und ohne auf die Erlaubnis des Staates zu warten. Winfried Kretschmann engagiert sich in der Laienvertretung des Freiburger Erzbistum, er ist Mitglied im Zentralkomitee der deutschen Katholiken und hat die Grünen in Baden-Württemberg mitbegründet. Am Sonntagnachmittag will Benedikt die Engagierten, die Ehrenamtlichen, die, wie es heißt, Vertreter der Zivilgesellschaft im Freiburger Konzerthaus treffen.
Die Freiburger haben sich an diesem Samstag Mühe gegeben, um dem Heiligen Vater aus Rom einen ordentlichen Empfang zu bereiten. Die Straßen sind vatikanisch gelb-weiß geflaggt. Tausende säumen die Straßen, durch die Benedikt zum Münsterplatz fährt, und winken mit Fähnchen. Jugendliche sind gekommen und Vertreter der Feuerwehr, Familien mit Kindern, Ältere, Pfarrgemeinderäte, Priester, Nonnen. Und doch ist der Platz nicht wirklich voll, als der Stellvertreter Christi dort spricht.
Er sei gekommen, um über Religion zu reden, hat Benedikt gleich am Donnerstag gesagt. „Es möge uns erneut bewusst werden, wie sehr Gott uns liebt und wie gut er ist, um so voller Vertrauen uns selbst und alles, was uns bewegt und wichtig ist, in seine Hände zu legen“, spricht er zu den Freiburgern. Kretschmann steht im Hintergrund, schaut ernst. Seine Aufgabe als Ministerpräsident ist erst einmal beendet.
Wo Benedikt auftritt, überall verfolgen sie ihn mit ihren Lebensentwürfen. Sie sind so anders, als es sich die katholische Kirche wünscht, mit ihren Brüchen, Sehnsüchten, Hoffnungen. Der Bundespräsident, katholisch, geschieden und wieder verheiratet, fordert, der Papst möge ihm die Tür zurück in die Kirche öffnen. Der Bundestagspräsident möchte, dass er etwas gegen die Kirchenspaltung tut. Katrin Göring-Eckardt wünscht, dass er katholisch-evangelischen Paaren erlaubt, gemeinsam zum Abendmahl gehen zu dürfen, Winfried Kretschmann „hätte doch gerne mal begründet“, warum Frauen nicht zu Priestern geweiht würden, wie er in einem Interview am Samstag sagte.
Aber der Pontifex geht nicht ein auf so Konkretes. Lebensweltliches ist zu klein für ihn. Er schlägt die Brücke ins Grundsätzliche. Je älter er wird, umso grundsätzlicher wird es. Was ist der tiefe, eigentliche Sinn des Lebens? Was ist die Aufgabe der Politik? Was heißt es, ein gläubiger Mensch zu sein? Die deutsche Geschichte, das abgründige, wahre Leben der Menschen, streift er immer mal wieder in seinen Reden. Sie liefern die Stichworte für seine Reisen ins Innere seines Glaubens. Vor seinem Abflug nach Freiburg, hatte er vor 28 000 überwiegend ostdeutschen Menschen auf dem Erfurter Domplatz gepredigt, dass die neue Freiheit nach 1989 zwar „geholfen hat, dem Leben der Menschen größere Würde und vielfältige neue Möglichkeiten zu eröffnen“. Aber diese Freiheit ist verdächtig. Die eigentliche, wahre Freiheit sei „ganz woanders als in der gesellschaftlichen Freiheit zu suchen“: in der radikalen Hingabe an Jesus Christus – so wie es Märtyrer und Heilige vorgemacht hätten. Es geht beim Papst nie eine Nummer kleiner, es geht immer ums Ganze: „Wenn wir uns dem ganzen Glauben in der ganzen Geschichte und dessen Bezeugung in der ganzen Kirche öffnen, dann hat der katholische Glaube auch als öffentliche Kraft in Deutschland eine Zukunft.“
Dass sich Joseph Ratzinger, dass sich Benedikt XVI. immer tiefer ins Grundsätzliche hineindenkt, hat seinen Horizont geweitet. Europa gründe auf dem jüdischen Glauben, der griechischen Philosophie und dem römischen Recht, hat der Oberkatholik am Donnerstag im Bundestag gesagt – und Politiker wie Kritiker überrascht. Er sprach nicht thriumphalistisch über die jüdisch-christlichen Wurzeln des Abendlandes, sondern lud alle ein, darüber nachzudenken, wie sich Vernunft, wie sich Recht und Wissenschaft anders begründen lassen als durch eine rein positivistische Sichtweise. Natürlich empfahl er die katholische Naturrechtslehre als Alternative, aber werbend, akademisch-abwägend und fragend ließ er den Horizont offen.
Umso schroffer wirkte die Abfuhr gleich am nächsten Tag. Da saß er im Augustinerkloster in Erfurt starr, in sich versunken, abweisend. Nikolaus Schneider, der Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche in Deutschland, saß neben ihm vor dem Altar. Das ganze Land, ja die Welt, schaute auf diese beiden geistlichen Führer. So viele hatten gehofft, dass das schwierige Verhältnis von katholischer und evangelischer Kirche hier und jetzt einen neuen Schub bekommen würde. Doch der Papst blickte kein einziges Mal hoch, drehte seinen Kopf nicht ein einziges Mal zu Nikolaus Schneider hin. Stattdessen schlug er mit Worten um sich. Offenbar hatte er sich geärgert über die vielen allzu konkreten Wünsche und Forderungen und Hoffnungen, die an ihn hingetragen wurden, es war schon wieder zu viel Weltliches im Spiel. Man habe ein „ökumenisches Gastgeschenk“ von ihm erwartet, sagte Benedikt. Aber so etwas zu erwarten sei ein „Missverständnis des Glaubens“. Die konkreten Wünsche, dass Evangelische und Katholiken zusammen Abendmahl feiern zum Beispiel, hält er für „wertlos“ und nicht einmal der Rede wert.
„Die reale Lebenssituation von Menschen muss die theologischen Fragen antreiben und bestimmen und nicht umgekehrt“, sagte der evangelische Nikolaus Schneider nach dem Treffen. Für Benedikt steht immer die Lehre, das Abstrakte, die Theologie an erster Stelle. Dann kommt der Mensch. Er hat sich gefälligst zu fügen.
Benedikt treibt um, ob seine Sünden und die der Welt Gnade finden vor Gott, wie man „tiefer und lebendiger glauben“ kann, um der Säkularisierung etwas entgegenzusetzen, nur durch ein tieferes Hineindenken und Hineinleben in den Glauben wächst Einheit, entsteht Neues. Entweder tiefer oder gar nicht. Hier ist es wieder, sein Denken in schwarz und weiß. Grautöne gibt es nicht. Entweder Traube am Rebstock Gottes sein oder verbrennen, vor diese Wahl stellte er die 61 000 im Berliner Olympiastadion. Wahrheit oder Verderben. Ohne die Hoffnung auf Gott „verliert die Gesellschaft ihre Humanität“, hat er im Gespräch mit der jüdischen Gemeinschaft gesagt. „Nicht die Selbstverwirklichung schafft wahre Entfaltung des Menschen, wie es heute als Leitbild des modernen Lebens propagiert wird“, gab er am Freitagabend den 90 000 Pilgern im thüringischen Etzelsbach mit auf den Weg. „Vielmehr ist es die Haltung der Hingabe, die auf das Herz Marias und damit auch auf das Herz des Erlösers ausgerichtet ist.“ Was heute als Leitbild des modernen Lebens propagiert werde, könne leicht in einen verfeinerten Egoismus umschlagen. Dass es Humanität außerhalb des Glaubens geben könnte, kann er sich nicht vorstellen. Agnostiker, Atheisten, sind ihm ebenso suspekt wie alle, die sich individuell aus sich heraus für Gott entscheiden.
Am späten Samstagnachmittag trifft Benedikt XVI. Alt-Bundeskanzler Helmut Kohl. Sie sind im gleichen Alter, wahrscheinlich werden sie sich in diesem Leben nicht mehr begegnen. Der liberale Katholik Kohl war oft anderer Meinung als Joseph Ratzinger. Als die deutschen Bischöfe in den 90er Jahren mit Johannes Paul II. und Joseph Ratzinger um die Schwangerenkonfliktberatung kämpften, war er auf der Seite der Bischöfe. Das ist vergessen. Benedikt möchte den verdienten Politiker Helmut Kohl ehren mit seinem Treffen. Viel Nostalgie ist dabei, wenn sich die beiden alten Herren begegnen. Helmut Kohl steht für das geordnete, selbstverständlich christliche Deutschland, das Joseph Ratzinger vertraut war.
Am Abend rufen zigtausende Jugendliche auf dem Freiburger Messegelände „Benedetto-Benedetto“. Der Papst will eine Gebetsandacht mit ihnen feiern. Für ihn ist es ein Höhepunkt der Reise. Denn diese Jugendlichen sind die Zukunft der Kirche. Viele der jungen Papst-Fans, auf die Benedikt so stolz ist, sind Individualisten. Sie begeistern sich für die katholische Kirche wie sich Winfried Kretschmann vor 30 Jahren für die Ökologiebewegung begeistert hat: nicht unbedingt, weil es ihm die Eltern vorgelebt haben, sondern weil er sich dafür entschieden hat. Aus puren Individualismus. Individualismus, den Benedikt so sehr ablehnt.
Claudia Keller