Machtprobe in Frankreich: Beim Streit um die Rentenreform geht es für Macron um alles
Seit einem Monat wird in Frankreich gegen die Rentenreform von Präsident Macron gestreikt. In der bevorstehenden Woche gehen die Verhandlungen weiter.
Seit einem Monat wird in Frankreich gegen die Rentenreform des Präsidenten Emmanuel Macron gestreikt. Der Protest der Gewerkschaften führt dazu, dass jeden Tag etliche Züge in Frankreich ausfallen. Auch die Metro in Paris ist vom Streik stark betroffen. In dieser Woche nimmt die Regierung nach der Weihnachtspause die Verhandlungen mit den Sozialpartnern über die Details der Rentenreform wieder auf. Ein schnelles Ende der Streiks ist trotzdem nicht abzusehen – für den kommenden Donnerstag haben Gewerkschaften erneut zu Demonstrationen aufgerufen.
Wie ist die Stimmung in der Bevölkerung angesichts des Streiks?
In Paris gibt es immer weniger Sympathie für den Ausstand. Durch den andauernden Streik vieler Metro- und Busfahrer sind zahlreiche Arbeitnehmer gezwungen, auf das Auto umzusteigen und Mitfahr-Plattformen zu nutzen oder auf alternative Verkehrsmittel wie Fahrräder oder E-Scooter zurückzugreifen.
Zudem haben Restaurants und Hotels vor allem in der Hauptstadt und der umliegenden Region Ile-de-France mit massiven Umsatzeinbußen zu kämpfen. Restaurantbetreiber klagen über Umsatzeinbußen zwischen 30 und 50 Prozent. Der Grund: Vielen Parisern bleibt für einen Abstecher ins Café keine Zeit mehr, weil sie mehr Zeit für die Arbeitswege einkalkulieren müssen. Zudem blieben über Weihnachten und Silvester zahlreiche Touristen in der Hauptstadt wegen des Streiks weg.
Anders als bei den Protesten der „Gelbwesten“ vor einem Jahr ist die Geschäftswelt in der Hauptstadt nicht nur an den Wochenende von den Einbußen betroffen, sondern tagtäglich. Inzwischen bricht der Streik sämtliche Rekorde. Der Ausstand bei der Staatsbahn SNCF und dem Pariser Nahverkehrs-Betreiber RATP dauert mittlerweile länger als der bislang längste Streik im Dezember 1986 und Januar 1987. Damals legten die Eisenbahner 28 Tage lang die Arbeit nieder.
Während sich sich in diesen Tagen vor allem in der Hauptstadt angesichts des Streiks zunehmend das Gefühl des „ras-le-bol“ („Schnauze voll“) einstellt, sieht die Situation in der Fläche des Landes noch anders aus. Nach einer vom Umfrageinstitut Ifop im Auftrag der Zeitung „Journal du Dimanche“ erhobenen Umfrage sprechen sich indes landesweit nur noch 44 Prozent der Befragten für den Ausstand aus. Mitte Dezember waren es noch 51 Prozent gewesen.
Wer profitiert von der Rentenreform, wer verliert?
Die großen Verlierer der Rentenreform sind Eisenbahner und alle anderen, die von den insgesamt 42 verschiedenen Rentenregelungen für einzelne Berufsgruppen profitieren. Macron möchte das unübersichtliche System vereinheitlichen. Bislang kommen die Sonderregelungen bei der Rente nicht nur Beschäftigten bei der Staatsbahn SNCF und den Pariser Verkehrsbetrieben RATP zu Gute, sondern auch Beschäftigten im öffentlichen Sektor oder Angestellten bei Elektrizitäts- und Gasversorgern. Die unterschiedlichen Regelungen sollen durch ein einheitliches System ersetzt werden, das alle Beschäftigten sowohl im staatlichen als auch im privaten Sektor erfasst.
Schon seit langem steht das gegenwärtige Rentensystem in der Kritik, weil eine geringe Transparenz herrscht. In Privatsektor werden beispielsweise für die Berechnung der Rente jene 25 Berufsjahre für den Rentenberechnung herangezogen werden, in denen der höchste Verdienst erzielt wurde. Dieses Berechnungssystem soll durch ein Punktesystem ersetzt werden, bei dem jeder in die Rentenkasse eingezahlte Euro bei der Auszahlung der Rente dieselbe Wirkung entfacht.
Zu den Gewinnern der Reform gehören unter anderem Frauen mit geringen Beitragszeiten und bislang niedrigen Rentenansprüchen. Zu den Verlierern gehören unter anderem Lehrerinnen und Lehrer, die in der Regel in Frankreich schlechter verdienen als in Deutschland, dies aber durch eine vergleichsweise hohe Rente kompensiert wird.
Worum geht es bei den Verhandlungen in dieser Woche?
Am kommenden Dienstag wollen Arbeitsministerin Muriel Pénicaud und Renten-Staatssekretär Laurent Pietraszewski die Sozialpartner empfangen, um über mögliche Nachbesserungen an Macrons Reformwerk zu reden. Allerdings hat der Präsident in seiner Neujahrsansprache bereits deutlich gemacht, dass ein kompletter Rückzug der Reform, wie er etwa vom radikalen Gewerkschaftsbund CGT gefordert wird, nicht in Frage kommt.
Denkbar sind in den Augen der Regierung indes Änderungen in einzelnen Detailfragen. Bereits vor der Weihnachtspause hatte die Regierung Erleichterungen für Flugbegleiter, Polizisten, Militärangehörige, Fischer und Lkw-Fahrer angekündigt. Auch bei den Bediensteten der SNCF sollen nur die jüngeren Jahrgänge von der Reform erfasst werden.
Die Gespräche am Dienstag bilden indes lediglich den Auftakt längerer Verhandlungen, die nach dem Willen der Regierung vor dem 22. Januar abgeschlossen werden sollen. Dann soll die Reform im Kabinett verabschiedet werden. Anschließend soll sich das Parlament, wo Macrons Partei „La République en Marche“ über eine große Mehrheit verfügt, im Februar mit der Neuordnung bei der Rente befassen.
In den kommenden Wochen werden bei den Gesprächen zwischen der Regierung und den Sozialpartnern vor allem zwei Punkte im Vordergrund stehen: Das sind zum einen weitere Erleichterungen für künftige Rentner, die derzeit einer besonders beschwerlichen Arbeit nachgehen. Zum anderen wird die Diskussion um die faktische Verschiebung des Renteneintrittsalters von 62 auf 64 Jahre weitergehen. Die gemäßigte Gewerkschaft CFDT unter ihrem Vorsitzenden Laurent Berger lehnt Macrons Reform zwar nicht grundsätzlich ab, stößt sich aber am „âge pivot“ – also an der geplanten Regelung, der zufolge Senioren erst im Alter von 64 Jahren ohne Abschläge in Rente gehen können. Die Regierung hält die Neuregelung allerdings für unumgänglich, um das milliardenschwere Loch in der Rentenkasse zu schließen.
Was ist bei den Demonstrationen am kommenden Donnerstag zu erwarten?
Landesweit haben die strikten Reformgegner wie der Gewerkschaftsbund CGT und die linksgerichtete Gewerkschaft „Force Ouvrière“ erneut zu Demonstrationen aufgerufen. Es ist inzwischen bereits der vierte Aktionstag der Gewerkschaften nach den Demonstrationen gegen die Rentenreform am 5., 10. und 17. Dezember. Nach Angaben der CGT waren beim letzten Protesttag vor Weihnachten landesweit 1,8 Millionen Demonstranten auf der Straße. Von der Beteiligung am kommenden Donnerstag wird es abhängen, ob der CGT-Vorsitzende Philippe Martinez auch in den kommenden Wochen noch die Rolle des wichtigsten Reformgegners spielen kann. Am vergangenen Freitag verteilte Martinez in Paris im neunten Arrondissement Flugblätter, auf denen die Botschaft zu lesen war: „Retraite à points: retraite en moins!“ („Punkterente bedeutet weniger Rente!“).
Martinez’ Strategie besteht darin, den Schulterschluss mit anderen Bewegungen wie den „Gelbwesten“ zu suchen und den Streik über die Beschäftigten bei der Bahn hinauszutragen. Für die Zeit zwischen dem kommenden Dienstag und Freitag hat die CGT zu einem Ausstand an den Raffinerien im Land aufgerufen. Allerdings sind die Beschäftigten in der Mineralöl-Industrie weniger von Macrons Reform betroffen als die Lokführer. Von Engpässen bei der Spritversorgung kann jedenfalls in Frankreich noch keine Rede sein. Nach Angaben des französischen Verbandes der Mineralöl-Industrie ist es wegen der Streiks in Raffinerien in der Auseinandersetzung um die Rentenreform bislang nur in drei Prozent der Tankstellen zu Einschränkungen gekommen.
Was passiert, wenn Macrons Reform scheitert?
Vor allem konservative Anhänger unter den Wählern der Regierungspartei „La République en Marche“ erwarten von Macron, dass er seine Reform durchzieht. Wenn Macron die Reform ganz kippen oder bis zur Unkenntlichkeit verwässern müsste, kann er sich voraussichtlich eine Wiederwahl als Präsident im Jahr 2022 abschminken. Sein Reformer-Image wäre dahin.
Ganz bewusst hat Macron die Rentenreform in die zweite Hälfte seiner Amtszeit verlegt. Zuvor hat er mit einer Erneuerung des Arbeitsrechts und einer Öffnung der Staatsbahn SNCF für den Wettbewerb den Boden für sein entscheidendes Reformwerk bereitet. Aus der jüngeren Geschichte weiß der Präsident, wozu die Franzosen fähig sind, wenn sie sich einmal auf den Barrikaden befinden. 1995 gab es im Nachbarland einen dreiwöchigen Streik gegen die vom damaligen Präsidenten Jacques Chirac geplante Rentenreform. Damals wurde bei der SNCF und der Post gestreikt, auch der öffentliche Dienst schloss sich an. Im Großraum von Paris kam es zu Staus mit einer Länge von insgesamt bis zu 500 Kilometern. Die Betroffenen wandten sich seinerzeit nicht gegen die Streikenden, sondern gegen die Regierung. Am Ende musste Chirac seine Rentenreform zurückziehen.