Türkei: Bei Anruf Anklage
Der bekannte türkische Journalist Kadri Gürsel steht an diesem Montag vor Gericht. Ihm wird vorgeworfen, dass Gülen-Anhänger ihn angerufen haben.
Wenn es nach der türkischen Staatsanwaltschaft geht, kann man schon dadurch zum Terroristen werden, indem man Anrufe von Anhängern des Predigers Fethullah Gülen erhält. Kadri Gürsel, ein prominenter Journalist der Oppositionszeitung „Cumhuriyet“, soll nach dem Willen der Anklage wegen Unterstützung einer terroristischen Vereinigung für 15 Jahre ins Gefängnis – obwohl die Kontaktversuche nicht von ihm ausgingen. Kritiker sehen den Prozess gegen Gürsel und weitere 18 „Cumhuriyet“-Vertreter, der an diesem Montag in Istanbul beginnt, als ein ganz besonders krasses Beispiel für den Druck auf die Medien in der Türkei.
Wie absurd die Vorwürfe der Anklage sind, hat der 56-jährige Gürsel in einer in der Untersuchungshaft geschriebenen Analyse herausgearbeitet. Gürsel, einer der prominentesten Journalisten des Landes, war per SMS und Anrufen von mutmaßlichen Anhängern Gülens kontaktiert worden. Obwohl Gürsel die allermeisten Botschaften und Anrufe nicht beantwortete, hält ihm die Anklage vor, mit Gülenisten konspiriert zu haben. Wenige Tage vor dem Putschversuch des vergangenen Jahres, der laut Ankara von Gülen organisiert wurde, nutzte Gürsel seine Kolumne für scharfe Kritik an Präsident Recep Tayyip Erdogan – die Staatsanwaltschaft wertet auch dies als Straftat.
Steudtner muss möglicherweise lange im Gefängnis bleiben
Gürsel ist nicht nur als Erdogan-Kritiker bekannt, sondern auch als Verteidiger des Säkularismus. Ihn einer Nähe zu den frommen Gülenisten zu bezichtigen, ist ungefähr so, als würde der Bundesanwalt bei Sahra Wagenknecht eine heimliche Zusammenarbeit mit Opus Dei mit dem Ziel eines Staatsstreiches konstatieren.
Bei anderen Angeklagten sieht es nicht besser aus. „Cumhuriyet“-Geschäftsführer Akin Atalay sitzt in Haft, weil er seinen Fußboden von einem Unternehmen erneuern ließ, das auch einen Gülenisten als Kunden hatte. Unter den Beschuldigten in dem Prozess ist auch der ehemalige „Cumhuriyet“-Chefredakteur Can Dündar, der nach Deutschland geflohen ist. Das Schicksal der Inhaftierten zeigt, dass der kürzlich verhaftete deutsche Menschenrechtler Peter Steudtner möglicherweise sehr lange im Gefängnis bleiben wird, bevor ihm der Prozess gemacht wird: Einige der insgesamt 19 Angeklagten im „Cumhuriyet“-Prozess sitzen seit fast neun Monaten hinter Gittern. Auf diese Weise werde die U-Haft zur Strafe ohne Urteil, schrieb Gürsel.