Türkei-Roman von Nedim Gürsel: Ohrfeigen für den großen Bruder
Nedim Gürsel erzählt in „Der Sohn des Hauptmanns“ von einer untergegangenen Türkei – und erblickt dabei die Gegenwart. Ein hochpolitischer Coming-of-Age-Roman.
Im Alter, wenn die Nächte lang werden und die Zukunft kein Versprechen mehr ist, rückt die Kindheit wieder näher. In Siebenmeilenstiefeln eilt man zurück in eine verschwundene Zeit, und die Erinnerung schert sich dabei nicht unbedingt um Chronologie, Zusammenhang oder Stringenz. Der Erzähler in Nedim Gürsels Roman „Der Sohn des Hauptmanns“ ist ein weitgereister Ex-Journalist, der in einer Istanbuler Wohnung sitzt und einem Tonbandgerät sein Leben anvertraut. Er streift durch die eigene Jugend, durch die fünfziger Jahre in der türkischen Provinz, folgt Seitenwegen mit Ausdauer, um schließlich in den Gassen seiner Sehnsuchtsstadt Istanbul zu landen.
Wiederkehrende Motive leiten den alten Mann. Der frühe Tod der Mutter – ob Unfall oder Selbstmord bleibt in der Schwebe – fügt ihm die erste unheilbare Wunde zu. Das Poltern des unnahbaren Vaters und seiner Trinkkumpane hallt noch immer in ihm nach. Die Jungenfreundschaften im Internat und die derben Rituale, die aus Kindern oft viel zu früh Erwachsene machen, sind ihm so unvergesslich wie das erste Begehren, das nicht von den Huren in der Abanoz-Gasse gestillt wird, die einer der lüsternen Freunde aufsucht, sondern von der Mutter eines Klassenkameraden.
Neben Orhan Pamuk der bedeutendste türkische Autor
Viele von denen, die dem Erzähler bei seiner Wanderung an die Orte der Jugend begegnen, sind längst nicht mehr am Leben. „An was kann ich mich schon klammern außer an die Vergangenheit, die Toten und die Vergangenheit der Toten“, sagt der selbst schon mit dem Tod flirtende Erzähler. Doch kann er bei aller erinnerungsseligen Introspektion die Gegenwart nicht ausblenden: Immer wieder funkt das Verhalten des Ministerpräsidenten dazwischen und fordert ihn zu Spott und Beschimpfungen heraus. Ja er begreift es als seine staatsbürgerliche Pflicht, sich lustig zu machen. Einmal verbindet sich eine Internats-Reminiszenz an den sadistischen Aufseher Recep mit dem tyrannischen Erdogan von heute: „Und ich kann nichts dafür, aber wenn Tag für Tag auf den Fernsehbildschirmen der Namensvetter des Lernsaalaufsehers auftaucht, dann muss ich mich schwer beherrschen, um ihm nicht ebenfalls eine Ohrfeige zu verpassen. Denn auch er spielt sich auf als Abi, als großer Bruder, um alles zu verbieten, und wenn es so weitergeht, dann verbietet er uns eines Tages noch, aufs Klo zu gehen.“
Der 66-jährige Nedim Gürsel, der neben Orhan Pamuk als bedeutendster lebender Autor der Türkei gilt und mit französischem Pass überwiegend in Paris lebt, nimmt in seinen Artikeln und Romanen kein Blatt vor den Mund. Das trug ihm zuletzt 2009 einen Prozess wegen Blasphemie ein, als er nach Meinung einiger Sittenwächter in seinem Buch „Allahs Töchter“ allzu freizügig vom Leben des Propheten erzählte.
Es geht um Macht und die Eroberung von Freiheit
Auch an seinem neuen Roman werden sich die Hüter der Moral stoßen. Das Erwachen der Sexualität der Internatszöglinge wird ohne Scham geschildert. Die Liebe zu der weitaus älteren Cazibe, die den jungen Erzähler in die Geheimnisse der Sexualität einweiht, wird mit großer Sinnlichkeit dargestellt. In einer laizistischen Türkei hätten solche Szenen kaum Anstoß erregt. Inzwischen ist das anders. Deshalb sind auch die politischen Passagen brisant. Der Erzähler weiß das. Er kennt das Risiko, wenn er seine Meinung über Erdogan und den Niedergang der Demokratie offenherzig ins Mikrofon spricht. Und tatsächlich wird ihm diese Leutseligkeit, obwohl hier ja ein Selbstgespräch in den eigenen vier Wänden stattfindet, am Ende zum Verhängnis.
Um Macht geht es in diesem Buch also ebenso wie um die Eroberung der Freiheit. Ein Kulminationspunkt ist denn auch das Jahr 1960, als ein Militärputsch den regierenden Ministerpräsidenten Adnan Menderes, der seinerzeit die politische Opposition ausschalten wollte, aus dem Weg räumt.
Der Vater des Erzählers spielt bei diesem Staatsstreich, der zu einer neuen Verfassung und Zivilregierung führte, eine nicht unbedeutende, allerdings auch nicht rühmliche Rolle. „Aus ‚Plattfuß Hasan‘, seinem Spitznamen, war ,Henker Hasan‘ geworden. Das verhindert, ehrlich gesagt, dass ich nach all den Jahren auf meinen Vater stolz bin.“ Ein Henker ist der Hauptmann vielleicht auch in anderer Hinsicht: Möglicherweise hat er seine Frau auf dem Kerbholz, die sich aus Versehen oder mit Absicht mit seiner Dienstpistole erschossen hat.
Problematische Vaterfiguren
Vaterfiguren sind in diesem Buch problematisch – ob es um Hasan, um Offiziere, Lehrer oder Ministerpräsidenten geht. Der Hauptmannssohn rechnet mit ihnen ab, obwohl er eigentlich Frieden mit der Vergangenheit schließen will. Die türkische Gegenwart lässt es nicht zu. Noch in die aufbruchsfreudigen Erinnerungen mischt sich das Unbehagen an der Maßlosigkeit der heutigen Elite.
Am Ende wird der alte Mann vom Küchentisch weg verhaftet. Die Erinnerung gehört ihm nicht allein. Es geht ihm da nicht anders als all den Journalisten und Autoren, deren Stimmen Erdogan auslöschen möchte. Nedim Gürsel hat mit seinem vielschichtigen und orientalisch ausschweifend erzählten Coming-of-Age-Roman auch ein hochpolitisches Buch vorgelegt.
Nedim Gürsel: Der Sohn des Hauptmanns. Roman. Aus dem Türkischen von Barbara Yurtdas. DuMont, Köln 2017. 318 S., 24 €. – Der Autor stellt seinen Roman im Gespräch mit Hans Christoph Buch am Donnerstag, den 15. Juni, um 20 Uhr im Literarischen Colloquium Berlin vor.
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