Nahles-Entwurf für Teilhabegesetz: Behindertenbeauftragte fürchtet "finsterste Fürsorgepolitik"
Mit einer großen Reform sollen Behinderte bessergestellt werden. Doch vielen Verbänden gehen die Vorschläge von Ministerin Andrea Nahles nicht weit genug. Und die Behindertenbeauftragte warnt vor einem Rückfall.
Seit Jahren warten behinderte Menschen in Deutschland auf eine Reform der Eingliederungshilfe, die ihre Lebenssituation verbessert und ihnen ermöglicht, ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Nach langer Vorarbeit hat Sozialministerin Andrea Nahles (SPD) nun einen 360 Seiten starken Gesetzesvorschlag vorgelegt. Und spart dabei nicht mit Eigenlob. Es handle sich um "eine der größten sozialpolitischen Reformen in dieser Legislaturperiode", sagte Nahles am Donnerstag. Von dem Gesetz würden "viele Millionen" Bürger profitieren - Menschen mit Behinderungen, ihre Familien und Lebenspartner, aber auch ihre Arbeitgeber.
Vielen Behindertenverbänden gehen die Vorschläge jedoch nicht weit genug. Und auch die Behindertenbeauftragte der Bundesregierung, Verena Bentele, äußerte sich kritisch. In einem Beitrag für das Online-Debattenmagazin "Causa" des Tagesspiegel bezeichnet sie es zwar als "großen Schritt", dass die gleichberechtigte Teilhabe nun als Menschenrecht erkannt und rechtsverbindlich festgeschrieben wurde". Für die Realisierung dieser großen Herausforderung reiche der Gesetzentwurf aber "trotz einiger guter Ansätze sicher nicht aus".
Beauftragte sorgt sich um Selbstbestimmung
Sorgen macht sich die Beauftragte insbesondere um die Selbstbestimmung der Betroffenen. "Ein Gesetz, das es einem Menschen mit Behinderungen zum Beispiel nach einem Schlaganfall nicht erlaubt, selbst darüber zu bestimmen, ob er weiterhin bei seiner Familie wohnt oder in eine Pflegeeinrichtung zieht, würde einen Rückfall in finsterste Fürsorgepolitik darstellen und einer Stärkung der Teilhabe diametral widersprechen", warnt sie. Das Gesetz bleibt hier vage, es sieht für die Behörden eine Abwägung zwischen Wirtschaftlichkeit und Zumutbarkeit vor.
Mehr als zehn Prozent der Bevölkerung sind schwerbehindert – insgesamt 7,5 Millionen Personen. Derzeit erhalten rund 800.000 Menschen in Deutschland Eingliederungshilfe. Dazu gehören Leistungen zur medizinischen Rehabilitation, Hilfen zum Wohnen oder zum Arbeiten in Behindertenwerkstätten.
Bisher können Behinderte kein Auto haben, ohne Ansprüche zu verlieren
Ein zentrales Anliegen der Verbände war, die Einkommens- und Vermögensgrenzen abzuschaffen. Derzeit dürfen Menschen mit Behinderung, die auf staatlich finanzierte Assistenz angewiesen sind, nicht mehr als 2600 Euro angespart haben, ohne ihre Eingliederungshilfe verringert zu bekommen. Das heißt: Sie können sich kein Auto anschaffen und haben Probleme, Geld für den Urlaub oder die Altersvorsorge zurückzulegen. Und wer arbeitet und 24 Stunden Assistenz benötigt, muss einen großen Teil des Einkommens abgeben.
Zu einer vollständigen Abschaffung dieser Grenzen, die bis zu 580 Millionen Euro kosten würde, konnte sich das Arbeitsministerium jedoch nicht durchringen. Der Gesetzentwurf sieht lediglich vor, dass der Vermögensfreibetrag ab dem Jahr 2017 auf 25.000 Euro und in einem zweiten Schritt ab 2020 auf knappe 53.000 Euro steigen soll. Partnereinkommen sollen komplett freigestellt werden. Das eigene Einkommen kann aber in gewissem Umfang auch weiter herangezogen werden, ebenso wie das Vermögen des Partners.
"Echte Verbesserung, aber keine Gleichstellung"
Die Anhebung der Vermögensgrenzen bringe zwar für viele Betroffene eine echte Verbesserung, sagte Sigrid Arnade, Geschäftsführerin der Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben (ISL). Sie sei aber keine Gleichstellung zu anderen Menschen und entspreche nicht den Empfehlungen der Vereinten Nationen zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention. Auch die Präsidentin des Sozialverbands VdK, Ulrike Mascher, nannte die Anhebung der Vermögensgrenze nicht ausreichend.
Bentele kritisiert die Vermögensanrechnung ganz grundsätzlich. Wenn es das Ziel des Gesetzes sei, Menschen mit und ohne Behinderung gleich zu stellen, dann dürften für Betroffene aus ihren Beeinträchtigungen keine finanzielle Nachteile entstehen, schreibt sie. Die für ihre Teilhabe nötigen Leistungen dürften ihr Einkommen oder Vermögen nicht mindern.
Kreis der Leistungsberechtigten soll eingeschränkt werden
Kritik übte die ISL zudem an der geplanten Einschränkung der Anspruchsberechtigten. Bisher haben alle „wesentlich behinderten“ Menschen Anspruch auf Eingliederungshilfe. Nun soll geprüft werden, in welchen Lebensbereichen sie ohne Unterstützung nicht teilhaben können. Mindestens fünf von neun Kriterien müssen erfüllt sein, damit es auch künftig noch Leistungen gibt.
„Das bedeutet, dass nicht nach dem tatsächlichen Bedarf geschaut wird, sondern nach bürokratischen Kriterien“, sagt Arnade. Ein sehbehinderter Student etwa, der Unterstützung bei der Kommunikation brauche, würde künftig rausfallen, prognostiziert sie.
Bentele pocht ebenfalls darauf, dass selbstbestimmte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben jedem "unabhängig von der Art oder Intensität seiner Beeinträchtigung" zustehe. "Ein genereller Ausschluss oder Leistungskürzungen bei Menschen mit bestimmten Formen der Behinderung (etwa von Menschen mit psychischen Beeinträchtigung) oder einem bestimmten Bedarfsumfang, würde die Zielrichtung einer Stärkung der Teilhabe insgesamt klar infrage stellen."
Unabhängige Beratung und Lohnkostenzuschüsse für Arbeitgeber
An anderer Stelle kam das Arbeitsministerium den Verbänden entgegen: So soll es künftig eine unabhängige Beratung geben, damit Behinderte sich besser im Gestrüpp der verschiedenen Leistungsträger zurechtfinden. Außerdem soll ein Budget für Arbeit eingeführt werden, damit der Übergang von der Schule und der Werkstatt für Behinderte auf den allgemeinen Arbeitsmarkt leichter zu schaffen ist. Arbeitgeber sollen über dieses Budget Lohnkostenzuschüsse von bis zu 75 Prozent erhalten, wenn sie Behinderte einstellen.
Unterm Strich, findet Verbandsvertreterin Arnade, sei es sehr ernüchternd, was das Arbeitsministerium vorgelegt habe. Das Ziel, ein modernes Teilhaberecht einzuführen, sei nicht erreicht. „Das Sozialhilfedenken ist nach wie vor maßgebend.“ Auch der Vorsitzende des Allgemeinen Behindertenverbandes in Deutschland, der frühere Linken-Bundestagsabgeordnete Ilja Seifert, spricht von einem „Bundesdraußenhaltgesetz“.
Lebenshilfe-Chefin sieht "fundamentales Umdenken"
Zu einer positiveren Einschätzung kommt die Vorsitzende der Lebenshilfe, Ulla Schmidt. „Das Gesetz beschreibt Schritte hin zu einem fundamentalen Umdenken“, sagt die frühere Gesundheitsministerin und heutige Bundestagsvizepräsidentin. Die Eingliederungshilfe solle schrittweise aus der Sozialhilfe geholt werden. Für Menschen mit Behinderung sei das immens wichtig, sie wollten mehr Wahlrecht. „Sie wollen selbst entscheiden, wo und mit wem sie leben, wo und wie sie arbeiten wollen.“
Beim Bundesteilhabegesetz hatte die Regierung hohe Erwartungen geweckt: Vor dem Gesetzgebungsverfahren durften die Behindertenverbände in einer Arbeitsgruppe im Sozialministerium ihre Wünsche einbringen. Doch von Anfang an war ungewiss, welchen Spielraum es am Ende für Leistungsverbesserungen geben würde. Schließlich heißt es im Koalitionsvertrag, durch die Reform solle keine neue Ausgabendynamik entstehen.
In den vergangenen Jahren waren die Ausgaben für die Eingliederungshilfe ständig gestiegen – seit 2005 von 11,3 auf heute 16,4 Milliarden Euro. Laut Gesetzentwurf sind bis 2020 Mehrausgaben für den Bund von rund 1,6 Milliarden vorgesehen, für Länder und Gemeinden von 350 Millionen Euro. Im Mittel werde das Gesetz den Bund pro Jahr etwa 400 Millionen Euro kosten, sagte Nahes am Donnerstag. Es soll noch vor der Sommerpause vom Kabinett beschlossen werden.