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Der Vorplatz des Hauptbahnhofs in Köln am 31. Dezember 2015.
© dpa

Gruppengewalt in der Kölner Silvesternacht: Ausgelassen, enthemmt, ungezügelt

Menschliches Verhalten ändert sich in großen Gruppen – auch das zeigt die Silvesternacht von Köln. Den Mob gibt es deshalb auch woanders. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Caroline Fetscher

Als Einkesselung ist die Taktik bekannt, derer sich die Männer der Kölner Silvesternacht bedienten. Ähnliche Szenen wurden 2010 auch vom Tahrir-Platz in Kairo berichtet. Um ein designiertes Opfer bildet sich ein isolierender Ring von Tätern. In dessen Innerem wird die Tat begangen, zeugenlos und im negativen Sinn abgeschirmt. Auch anderswo in Deutschland und der Schweiz wurden Frauen ähnlich sexuell belästigt, benutzt, einige offenbar vergewaltigt.

Was weltweit gerade auch in autoritären Staaten im Schutz von privaten vier Wänden geschieht – Gewalt gegen Frauen, Gewalt gegen Schwächere generell –, passierte hier im Schutz der Gruppe. Auf einem Bahnhofsvorplatz. Auf die Klage über den emotionalen Vandalismus von Migranten muss die Antwort des Rechtsstaats ebenso folgen wie die Analyse.

In festen wie flüchtigen Massen, in großen Gruppen, ändert sich das Verhalten. Das Individuum komme in der Masse „unter Bedingungen, die ihm gestatten, die Verdrängungen seiner unbewußten Triebregungen abzuwerfen“, schrieb Sigmund Freud 1921 in „Massenpsychologie und Ich-Analyse“. Während bei diesem Prozess Bewusstheit und Gewissen schwinden, so Freud, treten „Äußerungen dieses Unbewußten“ zutage, Affekte. Augenscheinlich war solche Dynamik am Werk, als Flashmobs aggressiver, frustrierter Männer über Frauen herfielen.

Freud attestierte der Gattung Mensch ein „Unbehagen in der Kultur“

Die soziale Textur des Alltags ist durchzogen von festen Fäden gesellschaftlicher Kontrolle und der Selbstkontrolle, gesponnen aus erlerntem Ausweichen vor Scham und Sanktion. Aus Angst vor ihnen werden Aggressionsimpulse oder sexuelles Begehren daher nicht nach Laune und Belieben ausgelebt. Gesellschaftliches Leben erfordert Sublimierung, das Transformieren von Trieben in Kulturleistung. „Man kann nicht alles haben“ ist die dazu passende, seufzend oder grimmig geäußerte Sentenz. Freud attestierte der Gattung Mensch aus diesem Grund ein unauflösbares „Unbehagen in der Kultur“. Zugleich sorgt jedoch der Lustverzicht für eben die Sicherheit und die Annehmlichkeiten, die demokratische Zivilisation garantieren.

Große Partys und Feste stehen für die Suspension des unbehaglichen Alltags, weshalb sie gern als „ausgelassen“, „enthemmt“ oder „ungezügelt“ bezeichnet werden. Zumal beim alkoholisierten Feiern eröffnet sich die – an sich harmloseste – Möglichkeit zeitweiser Gruppenbildung. Spontan tun sich Leute zusammen, um einen Nichtsahnenden in ein Wasserbecken zu werfen, ein Spottlied zu grölen oder mit Sektkorken auf andere zu zielen. Für ein paar Stunden feiert man sozusagen das Behagen an der Unkultur. Fragmente von im Alltag unterdrückten Fantasien werden Wirklichkeit. Die Leute haben einen Mordsspaß, es gibt eine Mordsgaudi.

Da kündigt sich schon, in solchen ja bemerkenswerten Wörtern, etwas an: Etwas weniger Munteres, Heiteres, das zu den Symptomen größerer, flüchtiger Gruppen gehört, die sich spontan zum Drangsalieren, Belästigen, Vergewaltigen oder Lynchen formieren. Gemeinsam ist ihnen nicht nur die Enthemmung, sondern auch die wechselseitige Bestätigung. Im vorliegenden Fall wäre der Subtext vermutlich zu entziffern als eine Collage aus Aussagen und Botschaften wie: Zusammen sind wir stark, stärker als die nachts hier umherstreunenden Frauen, mit unseren Taten triumphieren wir über die privilegierten, eingesessenen Männer am Ort, wir haben und nehmen uns unser Anrecht auf Befriedigung, solche Frauen haben nichts Besseres verdient, es geschieht ihnen nur recht. Und so weiter.

Die Bindung an die Gruppe entriegelt das individuelle Gewissen

Selten treffen Massen solche Aussagen direkt, niemals reflektiert und individuell. Die Bindung, und sei es eine passagere, der imaginären Brüderhorde an die Gruppe entriegelt das individuelle Gewissen und befähigt dazu, den Subtext gemeinsam auszuagieren. Derzeit stehen der nun oft kollektiv inkriminierten Masse der Neuankömmlinge strukturell ähnlich entstandene Gruppen von Attentätern gegenüber, die hunderte von Brandsätzen gegen deren Unterkünfte schleudern. Flankiert werden sie von anonymen Akteuren und deren Invektiven im Internet - auch da wabert das Behagen an der Unkultur.

Bei diesem Netz-Mob lautet der vermutete Subtext so: Zusammen sind wir stark, stärker als die hier einfallenden Asylanten, mit unseren Taten triumphieren wir über Politiker und Gutmenschen, wir haben und nehmen uns unser Anrecht auf Vertreibung, solche Sozialschmarotzer haben nichts Besseres verdient, es geschieht ihnen nur recht. Und so weiter.

Gegen die illegitime Macht anonymer Massen hilft vor allem das Mittel der Courage all derer, die mit ihren Namen und Worten offen und öffentlich Klärung und Aufklärung fordern.

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