Ein Jahr #MeToo: Aus der Dunkelkammer des Schweigens heraus
Vor einem Jahr kamen die Vorwürfe gegen Harvey Weinstein ans Licht. Seither hat sich die Wahrnehmung sexueller Übergriffe weltweit verändert. Ein Kommentar.
Anruf des Regisseurs, nachts um halb eins, nach der Feier des Ensembles. Alle sind auf Tournee, alle im selben Hotel. Er sei im Zimmer mit der Nummer Soundso, teilt er der jungen Schauspielerin mit. Sie wolle doch in der nächsten Saison diese Hauptrolle…. „Ich warte.“ Unumwunden, so ganz ohne Beiwerk, diktierte der Mann aus seiner beruflichen Machtposition heraus Bedingungen. Die Schauspielerin blieb auf ihrem Zimmer, und sie bekam die Rolle nicht. Kein Deal.
So hat sich das abgespielt, vor mehr als zwei Jahrzehnten in einer deutschen Großstadt. Den Vorfall berichtete die Frau damals, zwischen Entrüstung und Amüsiertheit, in ihrem Freundeskreis: „Der macht das dauernd“, sagte sie, „und nicht nur der.“ Ihre Freunde schüttelten den Kopf: „Ist ja unmöglich!“ Öffentlich wurden derlei Praktiken nicht. Sie verharrten in der Schattenrealität, ganz wie „häusliche“ Gewalt gegen Frauen oder wie sexualisierte Gewalt gegen Minderjährige in all den Familien, Kirchen, Internaten und Vereinen.
Viele tausend Frauen machten ihre Erlebnisse öffentlich
Als vor genau einem Jahr die Affäre um den Hollywood-Produzenten Harvey Weinstein losbrach, dessen Gepflogenheiten nicht anders aussahen, als die des deutschen Regisseurs aus der Vignette, schien eine Lawine ins Rollen zu kommen. Dazu beigetragen hat die technische Revolution der weltumspannenden sozialen Netzwerke.
Unter dem Hashtag #MeToo machten abertausende Frauen im Internet öffentlich, wo und wie ihnen Sexismus begegnet. Die Ereignisse rangierten dabei in etwa analog zur Richterskala. Anzügliche Bemerkungen oder ungeschickte Ansätze, erotisches Interesse zu entfachen, ließen sich vielleicht als Bebenstärken eins bis drei bezeichnen, sexuelle Erpressungsversuche als vier bis sieben, Nötigungen und Vergewaltigungen entsprächen dann Sturmstärken von acht, neun, zehn.
Entstanden ist ein Sexismus-Archiv der Gegenwart
Die Übergänge sind graduell. Aus einer Brise kann ein Orkan werden – oder nur gemacht werden, und daher, so die Kritiker, seien die Kategorien unklar. Hat es an der Berliner Gedenkstätte für Stasi-Opfer nur plumpe Flirtversuche gegeben oder ein unerträglich sexistisch aufgeladenes Klima? Wie subjektiv, wie objektiv sind die Aussagen? Was strafrechtlich relevant ist, klärt das Gesetzbuch. Was aber unterhalb dieser Schwelle nicht zu dulden wäre, das muss die Zivilgesellschaft mit sich selber aushandeln, und da ist sie nun auf einem neuen Plateau. Offenbar auch deshalb hat der Stiftungsrat im Fall der Gedenkstätte die Suspendierung der Leitung verfügt.
Selbst wenn also eine Sammlung von Millionen Berichten, Anekdoten und Beschwerden über männliche Belästiger und Täter kein wissenschaftliches Werk darstellt, die Beiträge unter dem Hashtag #MeToo akkumulieren sich zu tonnenschwerem Material. Durch sie ist eine Beweislast entstanden gegen habituelles, männliches Verhalten, ein Sexismus-Archiv der Gegenwart, das mit der Macht der Dringlichkeit nach Antworten und Lösungswegen verlangt.
Keine Gruppe von Männern ist ausgenommen
„Me too!“ heißt „Ich auch!“. Für Frauen ist das der Kernaspekt der Kampagne im virtuellen Raum: Wir sind nicht allein. Mit jedem „Ich auch!“ bekommt die Forderung nach einem Kulturwandel im Verhältnis der Geschlechter zusätzliches Gewicht. Mit jeder weiblichen Stimme, die aus der Dunkelkammer des Schweigens bricht, öffnet sich deren Tür ein Stück weiter, und flutet mehr Licht in den obskuren bis finsteren Raum, worin Männer, verbal manipulativ bis physisch gewaltsam ihre Suprematie behaupten. Keine Gruppe von Männern ist ausgenommen. Väter, Brüder, Onkel tauchen auf bei #MeToo, Trainer, Lehrer, Therapeuten, Ärzte, Dozenten an Musikhochschulen, Chefs von Firmen, Vorgesetzte jeder Branche. Oft aber, und das muss noch Thema werden, wissen einflussreiche Frauen vom Verhalten ihrer Gatten oder Kollegen und dulden oder ignorieren es. Wie auch immer das Machtgefälle aussieht, missbräuchliche Seilschaften funktionieren stets mit Komplizen.