Roland Jahn im Interview: "Aufklärung kennt keinen Schlussstrich"
Roland Jahn, Bundesbeauftragter für die Stasi-Unterlagen, spricht über den Stolz der Ostdeutschen auf das vor 20 Jahren verabschiedete Stasiunterlagengesetz – und die 68er der DDR.
Das Stasiunterlagengesetz ist eines der wenigen Dinge, die in das gemeinsame Land übernommen wurden. Warum sind die Ostdeutschen trotzdem nicht stolz darauf?
Das sehe ich nicht so. Ostdeutsche sind auch darauf stolz. Das Stasiunterlagengesetz ist eine Erfolgsgeschichte. Erstmalig in der Welt wurden die Akten einer Geheimpolizei offengelegt. Und das in einem Verfahren, das eine rechtsstaatliche Basis hat.
Aber viele Ostdeutsche haben das Gefühl, sie werden von diesem Stasiunterlagengesetz zu Mittätern gestempelt.
Das Gesetz stempelt niemanden ab. Es schafft Transparenz und regelt den Zugang zu den Akten. Wenn Millionen Menschen durch diese Akten erfahren haben, wie in ihr Leben eingegriffen worden ist, dann kann man sagen, es ist gut, was die Ostdeutschen hier erreicht haben. Wir alle erfahren, wie die Diktatur in der DDR funktioniert hat durch den Blick in diese Stasiakten. Die Überprüfungen auf frühere Stasitätigkeit im öffentlichen Dienst haben dazu beigetragen, dass mehr Vertrauen in die Behörden hergestellt worden ist.
Viele sind dieser Debatte ein wenig müde. War es ein Fehler, dass zu sehr nur auf IM geschaut wurde?
Insgesamt ist es ein Problem, dass die Aufarbeitung der Diktatur immer mit dieser Fixierung auf die Staatssicherheit verknüpft war. Das hat zu einer Schieflage beigetragen. Wir müssen weiter blicken. Schließlich war die SED der Auftraggeber für die Stasi. Wir müssen mehr schauen, wie der Alltag der Diktatur funktioniert hat, und wer die Verantwortlichen waren.
An welchen Stellen hätte die öffentliche Debatte in den vergangenen 20 Jahren anders laufen können?
Ich würde mir wünschen, dass diejenigen, die in der DDR Verantwortung getragen haben, sich offener der Debatte stellen. Ich wünsche mehr Bekenntnis zu ihrer Biografie und Übernahme individueller Verantwortung.
Die Täter bekennen sich zu ihrer Biografie, sie wollen sie bloß nicht kritisch sehen.
Selten, und dann ist das meist kein Bekenntnis zu ihrer Biografie. Fast alles, was aus dieser Richtung gekommen ist, ist kein Hinterfragen, sondern das ist Rechtfertigung. Die Toten an der Mauer sind aber beispielsweise durch nichts zu rechtfertigen. Ich wünsche mir ein Anerkennen des prinzipiellen Unterschieds zwischen Demokratie und Diktatur. Die damals Verantwortlichen genießen heute die Vorteile des Rechtsstaates: Sie können sich frei versammeln, sie können Bücher veröffentlichen, sie können ihren Urlaub auf Gran Canaria verbringen. Aber sie sollen bitte diese Vorzüge von Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit und Reisefreiheit auch mal als solche benennen. Denn diese haben sie den Menschen in der DDR vorenthalten.
Hat nach 20 Jahren die Phase der Aufklärung und Wiedergutmachung für die Opfer ein Ende gefunden?
Nein. Zeit heilt nicht alle Wunden. Es gibt, das zeigen Studien, Retraumatisierungen bei den Opfern. Ich erlebe in meinen Bürgersprechstunden, wie Menschen bis heute unter dem leiden, was sie in der DDR erlebt haben. Es geht darum, die Empfindungen der Opfer ernst zu nehmen und auch Zeichen zu setzen. Der Besuch des Bundespräsidenten im Mai des Jahres im Frauen-Zuchthaus Hoheneck, als er dort auf die ehemaligen Insassinnen traf, das war ein kleiner symbolischer Akt und eine große Hilfe für diese Frauen. Den Opfern solche Zeichen der Solidarität zu geben, ist wichtig für die Aufarbeitung des Unrechts.
Sind Sie hauptsächlich Aufklärer oder Anwalt der Opfer?
Ich bin Bundesbeauftragter für die Stasiunterlagen. Mein gesetzlicher Auftrag ist: Aufarbeitung mithilfe der Stasiakten zu gewährleisten. Ich bin nicht Sprecher der Opfer, aber ich bin natürlich für die Opfer da.
Sollten Sie als Bundesbeauftragter nicht für alle da sein?
Ich bin für alle da. Für jeden, der in die Akten schauen will. Aufarbeitung heißt für mich, auch den Opfern gerecht zu werden. Sie haben es noch heute nicht leicht, Wiedergutmachung zu erfahren. Die Akten können helfen: Sie verschaffen den Opfern Genugtuung, sie liefern Dokumente für ihre Rehabilitierung, und sie geben ihnen einen Teil der Biografie zurück, die die Stasi ihnen gestohlen hat.
Herr Jahn, Sie sind als Versöhner angetreten. Nun heftet Ihnen das Etikett der Unversöhnlichkeit an. Was ist da schiefgelaufen?
Etiketten werden heute schnell verteilt. Ich weiß nur, dass ich zur Versöhnung beitragen möchte, durch Aufklärung. Denn es kann nur das vergeben werden, was man weiß. Und es kann nur dem vergeben werden, den man kennt. Aufklärung ist die Voraussetzung für Versöhnung.
Ist es Beitrag zur Versöhnung, wenn man gut 40 ehemalige Stasimitarbeiter per Gesetzesnovelle aus der Behörde entfernt, obwohl sie sich in 20 Jahren Arbeit nichts zuschulden kommen ließen?
Sie sollen ja nicht entlassen, sondern in andere Bundesbehörden versetzt werden, ein Vorgang, der normal ist im öffentlichen Dienst. Es geht in der Sache nicht darum, Menschen zu bestrafen, sondern Menschen zu helfen. Es ist eben für Opfer schwer erträglich, dass gerade in der Behörde, die Stasimachenschaften aufklärt und Opfern Einsicht in ihre Akten gewährt, ehemalige Mitarbeiter der Staatssicherheit arbeiten.
Aber die Mitarbeiter waren der Behörde von Anfang an bekannt, sie wurden ja teilweise gerade wegen ihres Insiderwissens eingestellt.
Das war schon immer strittig. Und aus meiner Sicht eine falsche Entscheidung. Das Fachwissen der Täter kann kein Grund für eine Festanstellung sein.
"Es wird keiner bestraft, wir versuchen nur, einen Konflikt zu lösen."
Wie können Sie zusammenarbeiten mit einem Beiratsvorsitzenden, der gänzlich anderer Meinung ist als Sie, was die Beschäftigung von ehemaligen Stasimitarbeitern angeht?
Richard Schröder, der Beiratsvorsitzende und ich, sind uns, mit dem gesamten Beirat, ja schon immer darüber einig, dass es eine schwere Belastung für die Behörde ist, dass ehemalige MfS-Mitarbeiter hier arbeiten. Darüber hat der Beirat im Mai auch noch mal eine öffentliche Erklärung abgegeben. Dass es unterschiedliche Wege zur Lösung des Problems gibt, gehört doch zur demokratischen Kultur. Das verhindert nicht, dass wir gut zusammenarbeiten.
Es gibt Vorwürfe, dass Sie damit den Rechtsstaat verbiegen. Robert Leicht spricht von „Bürgerrechthaberei“.
Wenn der Bundestag so ein Gesetz verabschiedet, tut er das wohlbegründet. Die Fachministerien haben das Gesetz geprüft. Der Bundesrat hat zugestimmt. Und ich hatte zusätzlich ein Rechtsgutachten in Auftrag gegeben, deshalb gehe ich davon aus, dass das Gesetz eine ausreichende rechtliche Grundlage hat.
Aber nach Versöhnung sieht es trotzdem nicht aus.
Entschuldigung, Versöhnung kann doch den Opfern nicht befohlen werden! Man muss die Opfer mitnehmen. Und das Gesetz ist ein deutliches Signal, dass man die Empfindungen derer, die unter der Stasi gelitten haben, ernst nimmt.
Totschlag verjährt nach 20 Jahren, Stasimitarbeit nie.
Wir sind hier nicht im Strafrecht. Es wird keiner bestraft, wir versuchen nur, einen Konflikt zu lösen. Auch Stasimitarbeitern soll vergeben werden, auch sie verdienen eine zweite Chance. Aber es geht immer um den Blickwinkel. Zuallererst müssen wir Menschen, die unter der Stasi gelitten haben, helfen. Es geht darum, ein Klima zu schaffen, das Versöhnung möglich macht.
Brauchen wir irgendwann einen Schlussstrich unter die ganze Debatte?
Schlussstriche stehen einer demokratischen Gesellschaft nicht gut zu Gesicht. Aufklärung kennt kein Ende.
Wie lange soll es Ihre Behörde eigentlich noch geben?
Es ist nicht entscheidend, welches Türschild draußen dransteht. Wichtig ist, dass die Akten weiter zugänglich sind. Und dass die authentischen Orte, an denen sinnlich erfahrbar wird, was die Stasi bedeutet hat, genutzt werden. Neben der Gedenkstätte Hohenschönhausen, dem ehemaligen Stasigefängnis, sollte auch dort, wo Mielke und die Zentrale der Staatssicherheit waren, ein Gedenkort sein. Eingebunden das Stasiarchiv, mit den vielen Millionen Akten, damit wir auch für nächste Generationen erfahrbar machen, was die Staatssicherheit war.
Wie kann man die junge Generation für die Stasiakten interessieren? Betroffen sind sie ja davon nicht.
Mit dem veränderten Gesetz wird es künftig einfacher, in die Akten verstorbener Angehöriger zu schauen. Darüber hinaus bleibt es wichtig, junge Menschen abzuholen bei ihrem eigenen Selbstverständnis. Wenn ich in Schulen vom Überwachungsstaat DDR berichte, kommt die Diskussion automatisch auf Bundestrojaner und auf möglichen Datenmissbrauch bei Facebook. Je klarer wir machen, was Unfreiheit bedeutet, desto eher können wir auf Gefahren für die Freiheit in unserer Gesellschaft hinweisen. Das Selbstbestimmungsrecht über die Daten darf nicht aufgehoben werden.
Wann gibt es in Ostdeutschland eine 68er-Bewegung?
Wir sind gerade am Beginn eines Dialoges zwischen den Generationen. Viele junge Menschen fragen ihre Eltern heute: Wie war das damals? Warum habt ihr mitgemacht? Was ist euch geschehen in der DDR? Warum wart ihr angepasst? Deshalb schauen übrigens auch viele Ältere in ihre Akten.
Aber die große Gesellschaftsdebatte zwischen Ost und Ost bleibt doch aus. Im Zweifel einigen sich alle Generationen darauf: Der Westen ist schuld.
Die Stasi ist keine Ostangelegenheit. Ich wünsche mir für ganz Deutschland, dass es nicht immer nur um Vorwürfe und Abrechnungen geht im Umgang mit der Vergangenheit. Ich möchte eine freie Debatte, in der Menschen offen reden und sich auch zu ihren Fehlern bekennen.
Robert Ide, Gerd Nowakowski.