Familiennachzug: Auf drei Flüchtlinge kommt nur einer, der nachzieht
Die Jamaika-Sondierer streiten weiter um den Familiennachzug – dabei zeigt eine Studie, dass wohl relativ wenige kommen würden.
Die Flüchtlingspolitik bleibt ein Knackpunkt bei den Sondierungen für eine schwarz-gelb-grüne Koalition. Die Grünen reagierten am Donnerstag scharf auf Kritik des FDP-Vorsitzenden Christian Lindner, der ihnen in der „Bild“-Zeitung vorgeworfen hatte, ihre Haltung zum Familiennachzug sei „in der Bevölkerung nicht mehrheitsfähig und ein Konjunkturprogramm für die AfD“. Die Grünen-Vorsitzende Simone Peter warf ihm dafür in der „Berliner Zeitung“ jetzt „populistische Plattitüden“ vor. So ließen sich Sondierungen nicht ernsthaft führen.
FDP wie Union: Angehörige sollen draußen bleiben
Lindner hat sich in der Frage auf die Seite der Unionsparteien gestellt. CDU und CSU hatten in einem gemeinsamen Papier vor Beginn der Sondierungen für sich festgelegt, dass Geflüchtete, die nach 2016 in Deutschland angekommen sind und nur eingeschränkten (subsidiären) Schutz erhalten haben, nun auf Dauer kein Recht bekommen sollen, ihre nächsten Angehörigen nachzuholen. Eigentlich war die Aussetzung des Familiennachzugs – beschlossen mit dem sogenannten Asylpaket II vom Frühjahr vergangenen Jahres – nur bis März 2018 vorgesehen. Sie zur Dauerregel zu machen begründete der FDP-Chef jetzt damit, dass „wir in Schulen und beim Wohnen an der Grenze sind“.
Befürworter der Familienzusammenführung – darunter der frühere Chef des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (Bamf) und heutige Flüchtlingskoordinator der Bundesregierung, Frank- Jürgen Weise – halten dem das staatliche Integrationsziel entgegen: Menschen, die sich um ihre nächsten Angehörigen sorgten, könnten sich kaum aufs Deutschlernen, Schule und Arbeit konzentrieren. Zudem werden immer mehr Zahlen zum Familiennachzug bekannt, die ein geringeres Problem erwarten lassen: Eine Studie, die das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesagentur für Arbeit im Oktober veröffentlichte, zeigt, dass die Jamaika-Sondierer sich aktuell um den Zuzug von 50 000 bis 60 000 Menschen streiten.
Zahlen liegen viermal niedriger als angenommen
Dieses Mehr ist nach Berechnungen der Forschungsgruppe um den Ökonomen und Migrationsexperten Herbert Brücker bis Ende des Jahres zu erwarten, wenn auch die lediglich subsidiär Geschützten ihre Familienangehörigen nachholen könnten. „Diese vergleichsweise geringen Zahlen für den Familiennachzug erklären sich daraus, dass viele Geflüchtete ledig sind und noch keine Kinder haben oder ihre Familienangehörigen bereits frühzeitig mit nach Deutschland gebracht haben“, heißt es in der Studie.
Weniger als die Hälfte der Geflüchteten – 46 Prozent – sind demnach verheiratet, auf jeden Erwachsenen entfielen 0,5 Kinder. Insgesamt, so die Nürnberger Fachleute, kämen auf jeden Flüchtling in Deutschland rechnerisch 0,28 Personen, die ein Recht auf Nachzug haben. Für syrische Geflüchtete liegt die Ziffer nur leicht höher (0,34). Brückers Gruppe hatte durch eine Befragung repräsentative Daten für alle Flüchtlinge erhoben, die von Januar 2013 bis Anfang 2016 Deutschland erreichten. Ihre Zahlen bedeuten, dass sich die seit Jahren vermutete Größenordnung des Familiennachzugs weiter verkleinert.
Auf dem Höhepunkt der Flucht aus Syrien im Jahr 2015 hatte das Bamf einen Faktor von 0,9 bis 1,2 Nachzügen pro Flüchtling angenommen – eine Zahl, die es kürzlich auf Nachfrage des Tagesspiegels zurücknahm. Der AfD-Fraktionsvorsitzende Alexander Gauland behauptete im Oktober sogar, der Faktor liege bei vier.
Aus dem Rechtsanspruch folgt nicht immer ein Nachzug
Eine Anfrage der Linksfraktion an die Bundesregierung hatte im Oktober auf der Basis von Visa-Zahlen des Auswärtigen Amts für syrische und irakische Flüchtlinge dagegen einen Faktor von 0,5 zutage gefördert. Das Bundesinnenministerium, das in der Vergangenheit öffentlich mit wesentlichen höheren Zahlen argumentiert hatte, will nun, wie das ihm unterstellte Bamf, gar keine mehr nennen: „Wissenschaftlich belegbare Zahlen“ zum durchschnittlichen Nachzug „gibt es nicht“, schrieb Innen-Staatssekretärin Emily Haber Mitte Oktober als Antwort auf eine Kleine Anfrage der Linken-Innenpolitikerin Ulla Jelpke.
Die Anfrage ihrer Fraktion hatte auch gezeigt, dass das Recht auf Familiennachzug nicht automatisch in Nachzüge mündet: Von den etwa 170 000 Visa, die auf berechtigte syrische und irakische Geflüchtete zwischen 2015 und Mitte 2017 entfielen, waren zum Zeitpunkt der Anfrage 70 000 von den zuständigen deutschen Konsulaten und Botschaften noch nicht einmal angenommen worden.
Asylverfahren legen Verwaltungsgerichte lahm
Unterdessen steigt die Zahl der Asylverfahren an den Verwaltungsgerichten weiter. Wie die „Neue Osnabrücker Zeitung“ berichtet, liefen bis zum Stichtag 30. Juni mehr als 320 000 Verfahren auf – viereinhalb mal mehr als ein Jahr zuvor. Im Sommer hatte schon der Bund Deutscher Verwaltungsrichter Alarm geschlagen. Allerdings ging der Vorsitzende Robert Seegmüller damals noch von schätzungsweise 200 000 Asylverfahren für das gesamte Jahr 2017 aus. Diese Zahl ist dem Bericht zufolge aber schon deutlich überschritten, der sich ebenfalls auf die Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der Linken beruft.
Bereits 2016 hatten sich die Klagen von Flüchtlingen verdoppelt – von 50 000 (2015) auf 100 000. Das Vorstandsmitglied beim Verwaltungsrichter-Bund, Erich Müller- Fritzsche, sagte der Zeitung: „Die Verwaltungsgerichte sind so stark belastet, dass sich die Arbeit mit dem gegenwärtigen Personal nicht zeitnah bewältigen lässt. Auch die von der Politik angekündigte Aufstockung beim Personal wird dafür nicht reichen.“
Der Anstieg der Verfahren spiegelt zeitversetzt die hohen Flüchtlingszahlen ab 2014 wider. Fachleute nehmen an, dass auch die geringeren Aussichten auf einen sicheren Status – wie die Ausweitung des nur subsidiären Schutzes für Syrer – viele Geflüchtete zu Klagen bewegen.