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Martin Schulz und der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan im Januar in Brüssel.
© dpa

Flüchtlingsdeal: Auch Erdogan hat etwas zu verlieren

Der Flüchtlingsdeal mit der Türkei ist zweifelhaft - dennoch wäre es falsch so zu tun, als habe deren Präsident Erdogan nichts zu verlieren. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Gerd Appenzeller

Wenn die Mitglieder einer Familie so zerstritten sind, dass sie der Vermittlung eines Dritten bedürfen, von dem sie zudem vermuten müssen, dass der nur an seine eigenen Interessen denkt – dann ist es um den Zustand und den Zusammenhalt dieser Familie schlecht bestellt. Das aus dem Privaten entlehnte Bild beschreibt ziemlich exakt die Situation Europas und seine Abhängigkeit davon, dass der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan seinen Teil der Flüchtlingsvereinbarung mit der EU einhält.

Europa tauscht Visafreiheit für türkische Staatsbürger gegen die Zusicherung derer Regierung, Flüchtlinge zurückzunehmen, die auf dem Seeweg über die Ägäis in Griechenland anlanden. Freilich drängt das Europäische Parlament auf die Respektierung gewisser demokratischer Grundfreiheiten in der Türkei, vorrangig die Freiheit der Presse und der Meinungsäußerung. Da Erdogan aber jeden, der eine andere Meinung als er hat, mit Terroristen gleichsetzt, steht dieser Pakt auf der Kippe.

Vielleicht hat Erdogan gerade vor der Visafreiheit Angst

Es geht, das negieren die Gegner Angela Merkels aus durchsichtigen Gründen gerne, nicht um einen Pakt der deutschen Kanzlerin mit dem türkischen Präsidenten, sondern um eine Vereinbarung der 28 Staaten der EU mit der türkischen Regierung. Diese Vereinbarung, die Oppositionspolitiker der Grünen und der Linken als schäbigen Deal verurteilen, wurde nur deshalb notwendig, weil Europa keine gemeinsame Politik in der Flüchtlingskrise findet. Viele Staaten der Gemeinschaft tun so, als seien die Krisen der Welt nicht bereits an ihre Grenzen vorgerückt, als könnten sie sich hinter Schlagbäumen verbarrikadieren. Nur deshalb ist ein in der Tat zweifelhafter Deal notwendig geworden. Wenn das Europäische Parlament sich dennoch weigert, vor den Menschenrechtsverletzungen in der Türkei die Augen zu verschließen, ist das ein Akt der Selbstachtung.

Es ist im Übrigen nicht so, als habe Erdogan bei einer Verweigerung nichts zu verlieren. Viele tausend Türken sehnen eine Reise in die EU ohne Visum herbei. Sie werden es ihrem Präsidenten anlasten, sollte aus der erhofften neuen Freiheit nichts werden. Aber vielleicht hat Erdogan ja gerade davor Angst – dass seine Türken sehen könnten, wie viel freier das Leben in der Europäischen Union ist als in ihrem eigenen Land.

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