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Vertriebene aus der Region Tigray stehen Schlange, um von Anwohnern gespendete Lebensmittel zu erhalten.
© dpa

"Eine der lächerlichsten Wahlen in der Geschichte": Äthiopien in Not

Gewalt, Hunger, drohender Zerfall – die Parlamentswahlen in Äthiopien stehen unter einem düsteren Vorzeichen.

Vom historischen Urnengang, der über das Schicksal einer der bevölkerungsreichsten Nationen Afrikas entscheiden soll, ist in Äthiopiens Hauptstadt nicht viel zu spüren. Addis Abebas Straßen sind wie üblich von Fahrzeugen verstopft.

Dazwischen wuseln Fußgänger durch die Fünf-Millionen-Metropole. In der „Hauptstadt Afrikas“, dem Sitz der Afrikanischen Union, wird ein Neubau nachdem anderen hochgezogen. Dagegen sind nur wenige Plakate zu sehen, die der Abstimmung an diesem Montag gewidmet sind - und wenn, dann werben sie für die regierende „Prosperity Party“. Neben dem strahlenden Gesicht des Premierministers Abiy Ahmed ist darauf eine gleichfalls strahlende Glühbirne abgebildet, das Symbol der Wohlstandpartei.

Ob dieses das ehrgeizige Elektrifizierungsprogramm der Regierung oder die gute Idee der Stimmabgabe für die Prosperity Party versinnbildlichen soll, bleibt offen. Von anderen Parteien fehlt in Addis Abebas Straßen jede Spur: Sie sind entweder zu arm zum Werben, boykottieren die Wahl, wurden für die Abstimmung erst gar nicht zugelassen – oder es findet in ihren Heimatregionen erst gar keine Abstimmung statt. „Eine der lächerlichsten Wahlen in der Geschichte“, meint ein Regierungsbeamter, der seinen Namen lieber nicht gedruckt sehen will.

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Höchstens Dreiviertel der rund 50 Millionen wahlberechtigten Äthiopier werden ihre Stimme abgeben können. In der Tigray-Provinz im Norden des Landes tobt seit acht Monaten ein gnadenloser Bürgerkrieg: Nach zahllosen Massakern und Massenvergewaltigungen herrscht inzwischen auch eine Hungersnot.

In der zentralen Oromia-Provinz fühlen sich ethnische Extremisten einmal mehr um die Aussicht betrogen, ihre Geschicke mindestens mitbestimmen zu können. Nachdem Regierungschef Abiy ihre Führer inhaftieren ließ, boykottieren sie die Wahlen.

Faire Wahlen gab es noch nie

In der im Osten des Landes gelegenen Somalia-Provinz wurde die Wahl auf September verschoben, angeblich weil es beim Druck der Stimmzettel zu Problemen kam.

Dem nach einer anfänglichen Begeisterungswelle inzwischen hoch umstrittenen Regierungschef kommt das gelegen. Bei seiner einzigen Wahlkampfkundgebung sprach Abiy am vergangenen Donnerstag in der Provinzstadt Jimma von „Äthiopiens erstem freien und fairen Urnengang“ - ein vor allem für die Bevölkerung der verheerten Tigray-Provinz Affront. „Was geht uns das alles überhaupt an?“, fragt ein 19-Jähriger in Tigrays Hauptstadt Mekelle: „Wir wollen mit Äthiopien ohnehin nichts mehr zu tun haben.“

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Abiy hat allerdings insofern Recht, dass die afrikanische Nation noch niemals in ihrer Geschichte einen fairen Urnengang erlebte. Selbst als aus Äthiopien nach Jahrhunderten feudaler Herrschaft und Jahrzehnten des „roten Terrors“ 1991 endlich eine Republik geworden war, blieben deren bisherige fünf Wahlgänge eine bloße Farce.

Auch Abiy Ahmed kam vor drei Jahren nicht durch den Willen des Volkes, sondern einen Beschluss der Koalitionspartei EPDLF an die Macht. Dass er sich jetzt zur Wahl stellt, kommt ein ganzes Jahr zu spät. Wegen Corona, sagt Abiy selbst. Er habe sich seines Siegs bisher nicht sicher sein können, sagen Analysten.

Um eine Chance zu haben, musste der Premierminister erst einmal seine Heimat in eine existentielle Krise stürzen, die das Zerreißen des Vielvölkerstaats zur Folge haben könnte. Während ethnische Nationalisten aller größeren Volksgruppen (Oromo, Amhara, Tigray und Somali) aus der Bundesrepublik Äthiopien eine noch losere Föderation zu machen suchen, will Abiy einen starken Einheitsstaat schmieden.

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Dazu löste er die nach Ethnien aufgeteilte Koalitionspartei EPDLF auf und gründete die einheitliche „Wohlstandspartei“. Dabei wollten ihm nicht einmal alle Koalitionspartner folgen: Vor allem scherte Tigrays Volksbefreiungsfront (TPLF) aus dem Bündnis aus.

Mit edlen Motiven angetreten

Die Reaktion des nach einem fulminanten ersten Amtsjahr mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichneten Reformers: Er schickte Truppen in die Tigray-Provinz und füllte die zunächst freigeräumten Kerker wieder mit politischen Gefangenen an. Sie gehören selbst seiner eignen Volksgruppe, den Oromo, an.

Zumindest in Teilen der Oromia-Provinz hält die Bevölkerung von Abiys Ideal eines Zentralstaats nichts. Sie will ihr Schicksal endlich selbst bestimmen nach Jahrhunderten der Vorherrschaft erst der Amharer, dann der Tigrayer. In jüngster Zeit nahmen blutige Zusammenstöße zwischen Angehörigen verschiedener Volksgruppen dramatisch zu. Sowohl in den Peripherien der Oromia-Provinz wie in Benishangul-Gumuz kamen Hunderte von Menschen ums Leben.

Kaum jemand bezweifelt, dass Abiy vor drei Jahren mit edlen Motiven antrat. Der einstige Geheimdienstoffizier erklärte, aus dem verknöcherten und von Tigrays Volksbefreiungsfront dominierten Überwachungs- und Kommandostaat einen modernen, demokratischen und marktwirtschaftlichen Staat machen zu wollen – und viele Äthiopier sind bereit, ihm dabei zu folgen.

Wie viele es sind, weiß keiner genau, denn Umfragen sind in dem abgedunkelten Staat noch immer tabu. Schon vor der Wahl stand allerdings fest, dass Abiy siegreich aus der Abstimmung hervorgehen wird, nachdem seine politischen Gegner zum Schweigen verurteilt wurden.

Der Urnengang werde keine einzige der Krisen in Tigray, Oromia oder Benishangul-Gumuz lösen, meint William Davison, Äthiopienexperte der Brüsseler Internationalen Krisengruppe ICG: „Doch er wird Abiy und seiner Wohlstandpartei die dringend nötige demokratische Legitimität verschaffen.“

Johannes Dieterich

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