Nach US-Luftangriff auf Krankenhaus in Afghanistan: "Ärzte ohne Grenzen" zieht sich aus Kundus zurück
Amerikanische Kampfjets haben in Afghanistan eine Klinik von "Ärzte ohne Grenzen" getroffen. Die Hilfsorganisation erhebt schwere Vorwürfe. Barack Obama spricht von einer "Tragödie".
Der Kampf um Kundus, der am Montag dieser Woche begann, genauer gesagt: neu aufflammte, mit der Eroberung der strategisch wichtigen Provinzstadt durch die Taliban – der Kampf ist mitnichten ausgestanden. Im Gegenteil: Er dauert an. Er fordert immer neue Opfer. Und er bestätigt ein allen am Hindukusch Engagierten nur zu bekanntes Muster, gewebt aus dreierlei Erkenntnisfäden. Es gibt keinen sauberen Krieg. Es gibt keine Wirkung ohne Nebenwirkung. Und es gibt, wenn überhaupt, keinen Fortschritt ohne Rückschritt.
Seit Tagen versuchen Nato und US-Armee bei der Vertreibung der Taliban aus der nordafghanischen Stadt Kundus zu helfen. Mit Kampfjets. Eine beim afghanischen Militär, das über keine nennenswerte Luftwaffe verfügt, willkommene Hilfe. In der Nacht zu Samstag allerdings wurde bei einem Luftschlag das Krankenhaus der Hilfsorganisation „Ärzte ohne Grenzen“ getroffen. Mindestens 19 Menschen starben, 37 weitere wurden verletzt.
Das Krankenhaus sei stark beschädigt worden und teilweise ausgebrannt, meldeten afghanische Medien. „Ärzte ohne Grenzen“ sah sich deshalb zum Rückzug aus Kundus gezwungen. Eine Sprecherin der Hilfsorganisation sagte am Sonntag, die Klinik sei nicht mehr funktionsfähig, Patienten seien an andere Einrichtungen weitergegeben worden.
Die Nato bestätigte zunächst lediglich Bombardierungen in Kundus. Ein Sprecher des US-Militärs erklärte, der Angriff könne „zu einem Kollateralschaden in einer medizinischen Einrichtung geführt haben“ – und legte damit nahe, dass es sich um ein Versehen handelt.
US-Präsident Barack Obama bekundete den Hinterbliebenen der Opfer am Samstagabend sein Beileid. In einer Mitteilung des Weißen Hauses sprach er von einem "tragischen Zwischenfall". Das Verteidigungsministerium habe eine Untersuchung eingeleitet. "Wir werden die Ergebnisse dieser Ermittlung abwarten, ehe wir die Umstände dieser Tragödie abschließend beurteilen", hieß es.
"Ärzte ohne Grenzen": Lage des Krankenhauses war bekannt
Die Verantwortlichen bei „Ärzte ohne Grenzen“ mögen an ein „Versehen“ allerdings nicht recht glauben. Mehrmals in den zurückliegenden Monaten habe man die GPS-Koordinaten des medizinischen Zentrums in Kundus „an alle beteiligten Konfliktparteien, Washington und Kabul eingeschlossen“, weitergegeben. Ein Vorgehen, das üblich ist, um zivile Einrichtungen wie Krankenhäuser zu schützen. Zudem soll, wie die Hilfsorganisation mitteilte, das Krankenhauspersonal in Kundus militärische Stellen in Kabul und Washington per Telefon davon informiert haben, dass die Klinik bombardiert werde – und dennoch hätten die Luftschläge auf das Hospital 30 Minuten angehalten.
Thomas Ruttig vom Afghanistan Analysts Network will denn auch nicht ausschließen, dass die Klinik, die größte, und die einzig verbliebene nicht-staatliche in Kundus, ein bewusst gewähltes Ziel war. Denkbar sei zum Beispiel, dass Taliban sich zuvor in das Krankenhaus geflüchtet und das medizinische Personal und die Patienten zu menschlichen Schutzschildern zu machen versucht haben. „Genaueres wird man erst wissen, wenn die amerikanischen Dokumente ausgewertet werden können“, sagt Ruttig und fügt hinzu, dass das dauern kann. Eher Monate als Tage. Für den Moment also regiert die Ungewissheit.
UN-Menschenrechtskommissar: Womöglich Kriegsverbrechen
UN-Menschenrechtskommissar Said Raad al-Hussein sprach von einem “absolut tragischen, unentschuldbaren und möglicherweise sogar kriminellen“ Vorfall. Bei dem Angriff handele es sich eventuell um ein Kriegsverbrechen.
US-Verteidigungsminister Ashton Carter hat von einem „tragischen Vorfall“ gesprochen. Dieser werde jetzt untersucht, hieß es in einer am Samstag veröffentlichten schriftlichen Mitteilung. „Während wir noch herauszufinden versuchen, was genau passiert ist, möchte ich allen Betroffenen sagen, dass ich ihnen meine Gedanken und Gebete widme.“
Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg hat sich „zutiefst betrübt“ über die ungewollten Opfer des Luftangriffs auf ein Krankenhaus im nordafghanischen Kundus gezeigt. „Ärzte ohne Grenzen leistet außergewöhnliche humanitäre Arbeit in aller Welt, Afghanistan eingeschlossen“, teilte er am Samstagabend in Brüssel mit. Stoltenberg verwies auf die US-Untersuchung des „tragischen Vorfalls“, die in Abstimmung mit der afghanischen Regierung stattfinde.
Berichten zufolge wurden zuletzt auch flüchtende Zivilisten getroffen
Zuletzt habe es schon verschiedentlich Berichte von vor Ort gegeben, wonach aus der Stadt flüchtende Zivilisten von Luftschlägen getroffen wurden, weil sie mit Taliban verwechselt worden seien, sagt Ruttig: „Die Situation ist sehr, sehr unübersichtlich.“ Von beiden Seiten werde viel härter vorgegangen als in den vergangenen Monaten. Lebensmittel seien knapp, Wasser und Strom vielfach abgestellt. „Die Leute müssen raus, raus aus ihren Kellern und Häusern, ob sie wollen oder nicht.“ Und geraten dann in die Schusslinien zwischen Militär und Taliban.
„Chirurgisch genau“ heiße leider nicht „100-prozentig genau“, sagt Rainer Arnold, SPD-Wehrexperte, um zu erklären, warum, wenn es das denn war, es immer wieder solche „Kollateralschäden“ gibt, trotz allen technischen Fortschritts. „Es bleibt ein Restrisiko, das hat Serbien gezeigt, das zeigt sich auch hier wieder.“ Mit „Serbien“ erinnert Arnold an den Beschuss der chinesischen Botschaft im Jugoslawienkrieg durch die Nato 1999. Allerdings zeigt „Serbien“ noch etwas anderes, das Arnold nicht im Sinn hat. Damals sprach die Nato auch von einem Versehen – später jedoch stellte sich heraus, dass die Botschaft gezielt bombardiert wurde, nachdem das elektronische Aufklärungssystem der Nato entdeckt hatte, dass sie zur Übertragung von Informationen durch das jugoslawische Militär genutzt wurde.
Ob Absicht oder nicht – für Omid Nouripour ist der Bombenangriff auf das Krankenhaus in Kundus „fatal“. Die Art und Weise der Eroberung der Stadt durch die Taliban lege eine große Unzufriedenheit von Teilen der Bevölkerung nahe, sagt der Außenpolitikexperte der Grünen. Das Letzte, so Nouripours Schlussfolgerung, „was die afghanische Regierung nun braucht, um die Köpfe und die Herzen der Menschen zurückzuerobern, sind Bomben auf Krankenhäuser“. (mit dpa, AFP, epd)