Afghanistan: Taliban können Rückeroberung von Kundus vorerst abwehren
Nach der Einnahme von Kundus im Norden Afghanistans durch die Taliban haben die Regierungstruppen eine Gegenoffensive begonnen - bislang offenbar mit wenig Erfolg.
In Afghanistan haben die Taliban die Rückeroberung von Kundus durch Regierungstruppen zunächst abgewehrt und sind stattdessen selbst in Richtung des Flughafens vorgerückt. Heftiger Gefechtslärm war am Dienstagabend in der Nähe des Flughafens zu hören, wie AFP-Korrespondenten berichteten. Dorthin hatten sich die Regierungstruppen am Montag zunächst zurückgezogen. "Die Taliban haben Landminen und Sprengfallen um Kundus versteckt", sagte ein Vertreter der Sicherheitskräfte. "Die Konvois zur Verstärkung der Regierungstruppen werden so gebremst."
Einen Tag nach der Eroberung der nordafghanischen Provinzhauptstadt durch die Taliban hatte die afghanische Armee am Dienstag ihre Gegenoffensive gestartet. Inzwischen sind auch Nato-Soldaten eingetroffen, um die afghanische Armee zu unterstützen. Die Spezialkräfte seien bereits vor Ort, um ihre afghanischen Kollegen zu beraten, sagte ein Nato-Sprecher am Mittwoch. Nach Angaben aus westlichen Militärkreisen handelt es sich um Soldaten aus Deutschland, Großbritannien und den USA.
Augenzeugen berichteten aus Kundus, die Straßen seien wie ausgestorben. Viele Bewohner seien geflohen, andere versteckten sich verängstigt in ihren Häusern. Die UN hatten ihre Mitarbeiter und Helfer anderer Organisationen bereits am Montag aufgerufen, sich am Flughafen der Stadt zu versammeln. Von dort wurden die meisten Ausländer offenbar ausgeflogen. Nach Tagesspiegel-Informationen konnte auch eine deutsche Entwicklungshelferin, die ein eigenes kleines Projekt in Kundus betreibt, die Stadt verlassen. Ob sich noch weitere Deutsche in Kundus aufhalten, war zunächst unklar. Die meisten Hilfsorganisationen hatten sich bereits vor dem Taliban-Angriff aus der Stadt zurückgezogen.
Während die Taliban im Zentrum von Kundus triumphierend ihre weiße Flagge hissten, floh auch die Provinzregierung zum Lager am Flughafen. Sowohl der Gouverneur der Provinz Kundus als auch der Polizeichef hielten sich zum Zeitpunkt des Überraschungsangriffs allerdings nicht in Kundus auf. Die Taliban hatten ganz offensichtlich die Feiertage zum islamische Zuckerfest ausgenutzt, um in die Stadt einzudringen.
Afghanistan: Können die Taliban Kundus halten?
Hunderte Soldaten aus anderen Regionen wurden in aller Eile nach Kundus verlegt, um gegen die Taliban zu kämpfen. Die Taliban hätten die Kontrolle über sein Hospital übernommen, erzählte der Arzt Abdul Ahad der Agentur Reuters. „Sie behandeln die Leute sehr gut, besonders die Ärzte. Sie könnten die Herzen gewinnen, wenn sie länger bleiben.“ Die Militanten folgen damit offenbar einer Direktive ihres neuen Führers Mullah Akhtar Mansur, der sie angewiesen hatte, „Leben, Besitz und Ehre der respektierten Bürger der Stadt Kundus zu schützen“. Für den neuen Taliban-Chef ist die Operation ein militärischer Triumph. Mansur, der in den eigenen Reihen noch umstritten ist, kann so auch seine Führungsrolle festigen.
Ob die Taliban die Stadt halten können, ist allerdings fraglich. Inzwischen sind US-Kampfflieger über Kundus und bombardieren die Posten der Taliban auf den Zufahrtsstraßen. Ein Polizeisprecher aus Kundus sagte am Dienstag der Nachrichtenagentur dpa: „Wir haben das Polizeihauptquartier und das Provinzgefängnis zurückerobert.“ Allerdings haben sich die Militanten offenbar in Häusern von Zivilisten verschanzt, was die Operation erschwert.
Die USA haben noch rund 10 000 Soldaten in Afghanistan stationiert. Darunter auch Spezialkräfte und Kampfflugzeuge. Diese sind im Rahmen eines bilateralen Abkommens mit den Afghanen im Land eingesetzt. Die Nato hat ihren Kampfeinsatz dagegen Ende 2014 beendet. Die deutlich kleinere Nachfolgemission mit dem Namen „Resolute Support“ ist eine reine Ausbildungsmission. Auch Deutschland ist daran beteiligt.
Die Einnahme von Kundus ist für die Bundeswehr ein herber Rückschlag
In Masar-i-Scharif, rund 150 Kilometer von Kundus entfernt, betreibt die Bundeswehr noch immer ein Feldlager. Insgesamt sind derzeit laut Angaben des Verteidigungsministeriums 862 Soldatinnen und Soldaten bei „Resolute Support“ eingesetzt. Ein Teil davon betreibt den deutschen Umladestützpunkt in Termes, Usbekistan. In Masar-i-Scharif selbst sind etwa 700 Soldaten stationiert.
Deutschland hat wie schon zu Zeiten des Kampfeinsatzes Isaf auch bei „Resolute Support“ eine Führungsrolle für den Norden übernommen. Das Feldlager Masar-i-Scharif – Camp Marmal –, in dem früher bis zu 5000 Soldaten lebten und arbeiteten, beherbergt nun Truppen von insgesamt 21 Nationen. Die Deutschen kümmern sich nach Auskunft eines Sprechers dort um die Verwaltung des Camps und beteiligen sich auch am eigentlichen Auftrag der Mission, der Ausbildung afghanischer Sicherheitskräfte.
Ein etwa 50-köpfiges Beraterteam verschiedener Nato-Staaten wird dazu mehrmals in der Woche in ein 15 Kilometer entferntes Armeelager der afghanischen Sicherheitskräfte geflogen. Die Beratung bezieht sich weniger auf militärische Fähigkeiten als auf Organisatorisches: Logistik und Personalmanagement beispielsweise. „Kämpfen können die Afghanen inzwischen selbst“, sagt der Sprecher. Beraten werden daher vor allem Führungskräfte, meist in einer Eins-zu-eins-Situation.
In Masar-i-Scharif selbst war die Lage am Dienstag ruhig, wie der Sprecher dem Tagesspiegel sagte. Die Einnahme von Kundus ist allerdings für die Bundeswehr ein herber Rückschlag. Bis zum Herbst 2013 gab es auch dort einen deutschen Posten. In der Region waren die meisten deutschen Gefallenen des Afghanistan-Einsatzes zu beklagen. Nun ist Kundus die erste afghanische Provinzhauptstadt, die nach dem Abzug der Nato-Kampftruppen an die Taliban gefallen ist. In diplomatischen Kreisen in Kabul wurde daher von einer „verheerenden psychologischen Wirkung“ gesprochen, die möglicherweise eine weitere Fluchtbewegung in Gang setzen könnte.