Premier Ahmet Davutoglu: Architekt der türkischen Außenpolitik
Manche sagen, er sei gefährlicher als Erdogan. Premier Ahmet Davutoglu ist der Architekt einer offensiven türkischen Außenpolitik. Beim EU-Gipfel musste er in der Flüchtlingsfrage mit Angela Merkel verhandeln – und liefern.
Wenn Ahmet Davutoglu jemanden überzeugen möchte, dann lächelt er. Dieser Tage lächelt er also andauernd, denn die Türkei wird von allen Seiten kritisiert. Da sind der Umgang mit den Kurden, Angriffe auf die Pressefreiheit, der Poker in der Flüchtlingskrise – und natürlich sein aufbrausender Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan.
Ein Büro am Bosporus, Davutoglu empfängt in seinen Istanbuler Amtsräumen. Er läuft um den mit Blumen geschmückten Tisch herum, Begrüßung per Handschlag. Ja, sagt der Ministerpräsident, er kenne das Imageproblem der Türkei. Und Pressefreiheit? Klar sei er dafür, aber auch Journalisten müssten sich eben an Regeln halten. Dann lächelt er und lässt Tee kommen. Devise: abwarten.
Davutoglu hat sich ein wenig Zeit verschafft, es sind andere, die jetzt reagieren müssen. Wenn er sich morgen und übermorgen mit Angela Merkel und anderen EU-Spitzenpolitikern in Brüssel trifft, um über die Bewältigung der Flüchtlingskrise zu beraten, hat Davutoglu gut lächeln. Vor zehn Tagen hatte er seine Verhandlungspartner mit einem Vorschlag überrascht: Die Türkei will alle Flüchtlinge zurücknehmen, die über ihr Territorium nach Griechenland gelangen – wenn die EU pro Rückkehrer einen syrischen Flüchtling aus einem türkischen Auffanglager aufnimmt und auf die bisher angebotenen drei Milliarden Euro noch einmal drei drauflegt. Der Vorstoß verschlug den meisten EU-Politikern die Sprache. „Das hatten sie nicht erwartet“, erzählte Davutoglu hinterher.
Der 57-Jährige war früher Politik-Professor
Merkel dagegen wusste Bescheid. Kanzlerin und Premier arbeiten seit Monaten eng zusammen. Davutoglu hat früh verstanden, dass sich da gerade etwas grundsätzlich verändert in Europa und dass die Türkei davon profitieren kann. Nicht nur finanziell. „Es gibt einen psychologischen Wandel bei den europäischen Spitzenpolitikern, besonders bei Angela“, hatte Davutoglu schon Ende vergangenen Jahres gesagt. Der 57-Jährige war früher Politik-Professor, und wie sich die europäischen Prioritäten verschoben, war lehrbuchgetreu.
Lange war der Syrien-Konflikt für die Europäer weit weg, „hinter den sieben Bergen“, wie ein Diplomat sagt. Der Massenansturm der Flüchtlinge hat das geändert. Plötzlich merken die Europäer, wie sehr sie die Türkei brauchen, um den Strom einzudämmen.
Und so fand sich Davutoglu beim Gruppenfoto des vergangenen Brüsseler Gipfels im Kreise der europäischen Spitzenpolitiker wieder. Plötzlich in einer Reihe mit EU-Ratspräsident Donald Tusk und Frankreichs Präsident François Hollande. Mit Merkel tauschte er beim Treffen in Brüssel sogar SMS-Botschaften aus, mit ihr und anderen feilschte er über die Höhe der EU-Finanzhilfe. Es sei zugegangen wie in Kayseri, berichtete Davutoglu auf dem Rückflug aus Brüssel; die Bewohner der zentralanatolischen Stadt sind dem Klischee nach besonders geizig.
Das freundliche Gesicht der türkischen Außenpolitik
Dass sie überhaupt mit ihm feilschen, ist für Davutoglu ein Zeichen dafür, dass die Türkei endlich dazugehört. „Wir sind eine europäische Nation“, sagt er. Den Satz kann er übrigens auch auf Deutsch. Davutoglu ist Absolvent der deutschen Schule in Istanbul. Englisch und Arabisch spricht der Ex-Professor ebenfalls. „Ich bin stolz auf meine Identität, aber die europäische Philosophie ist mir nicht fremd“, sagt er. Er hat mit Daniel Cohn-Bendit über Europa und Israel diskutiert und mit Joschka Fischer über die Weltordnung im 21. Jahrhundert.
Davutoglu ist zum freundlichen Gesicht der türkischen Außenpolitik geworden – ein Intellektueller mit gepflegtem Schnauzbart, westlicher Bildung und stets höflichen Umgangsformen. Er bildet insofern einen Gegenpol zum ruppigen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan, der keine Fremdsprache spricht, nur selten lächelt und EU-Spitzenpolitikern offen damit droht, die rund drei Millionen Flüchtlinge in der Türkei in Bussen nach Europa zu schicken.
Zu Hause in der Türkei steht Davutoglu allerdings ganz im Schatten von Erdogan. Sechs Jahre lang diente er seinem Chef als außenpolitischer Berater, bevor er 2009 türkischer Außenminister wurde und 2014 den ins Präsidentenamt wechselnden Erdogan als Ministerpräsident und Vorsitzender der Regierungspartei AKP beerbte.
Dieser Text erschien am 17. März auf der Dritten Seite des gedruckten Tagesspiegel.
Davutoglu gibt sich mit dem Platz neben Erdogan zufrieden
Wer in der islamisch-konservativen AKP aufsteigen möchte, muss fromm sein; und Davutoglu ist das von Haus aus. Sein Vater war Textilhändler im zentralanatolischen Konya, einer besonders konservativen Gegend der Türkei. So ist auch Davutoglu ein gläubiger Sunnit. Bei der letzten Wahl kam die AKP in Konya auf 74 Prozent. Wie Erdogan hat Davutoglu vier Kinder, seine Frau Sare, eine Gynäkologin und Abtreibungsgegnerin, trägt wie Erdogans Frau Emine und die Frauen der meisten AKP-Spitzenpolitiker Kopftuch.
Erdogan hat, seit er Präsident ist, laut Verfassung eigentlich keine wirklichen Machtbefugnisse mehr. Dennoch lässt Regierungschef Davutoglu ihm regelmäßig den Vortritt. Erdogan macht in der Öffentlichkeit unmissverständlich klar, wer in der Türkei das Sagen hat. So leitet der Präsident als Demonstration seines Machtanspruchs hin und wieder Kabinettssitzungen. Davutoglu gibt sich dann mit einem Platz neben Erdogan zufrieden.
Schon oft hat sich Davutoglu den Vorgaben Erdogans angepasst. So äußerte er zuerst Bedauern über die Inhaftierung der Journalisten Can Dündar und Erdem Gül, die wegen angeblichen Geheimnisverrats in Untersuchungshaft saßen. Doch als das Verfassungsgericht die beiden Reporter freiließ und Erdogan die Richter dafür rügte, sprach auch Davutoglu plötzlich von einem schweren Vergehen der Journalisten und davon, dass die Inhaftierung kein Angriff auf die Pressefreiheit sei.
Karikaturisten zeichnen Davutoglu als braven Schüler
Wer Erdogan und Davutoglu genau beobachtet, merkt, dass sie sich auch im Stil immer mehr angleichen. Während Davutoglu als Außenminister eher zurückhaltend und leise gesprochen hatte, spickt er seine Ansprachen als Premier und AKP-Chef häufig mit islamischen Sprüchen und scharfer Kritik an allen, die nicht so denken wie er. Hin und wieder brüllt er sogar. Türkische Karikaturisten zeichnen Davutoglu deshalb gerne als braven Schüler, der an Erdogans Rockzipfel hängt.
Doch so einfach ist es nicht. Davutoglu ist der Architekt einer neuen türkischen Außenpolitik, die das Land als eigenes Machtzentrum und Regionalmacht definiert. Sein Buch „Strategische Tiefe“ aus dem Jahr 2001 ist das Manifest dieser Politik, die Erdogan lediglich dankbar übernimmt.
Der Politologe Behlül Özkan hat früher bei Davutoglu studiert. Jetzt lehrt er selbst an der Istanbuler Marmara-Universität. Die Entwicklung seines ehemaligen Professors hat er genau verfolgt. „Erdogan respektiert Davutoglu“, sagt Özkan. Die beiden arbeiten seit Langem zusammen. Im Arabischen Frühling sehen Davutoglu und Erdogan die große Chance für die Türkei gekommen. Sie unterstützen sunnitische Gruppen wie die Muslimbruderschaft in Ägypten, mischen sich beim südlichen Nachbarn Syrien ein. Mehr als 60 Mal besucht Davutoglu die Regierung in Damaskus zwischen 2001 und 2011. „Baschar al Assad war ein enger Freund“, wird er später sagen. Doch Assad lehnt die Forderung der Türken nach politischen Reformen ab. Aus dem Freund wird ein Feind.
Früher war Assad sein Freund
Zu Beginn des Syrien-Konflikts erwartet Davutoglu noch ein rasches Ende der Assad-Herrschaft. Das spricht er auch offen aus. Zum Beispiel an einem Abend im Frühjahr 2012, der damalige türkische Außenminister ist gerade in Istanbul gelandet, wo am nächsten Tag eine internationale Syrien-Konferenz stattfinden soll. Polizeiwagen fahren voraus, schaffen Platz für die schwarze Limousine des Ministers im dichten Istanbuler Feierabendverkehr. Die Sirenen und das Gehupe draußen dringen gedämpft durch die dicken Scheiben von Davutoglus Wagen.
Der Minister blickt aus dem Fenster auf das Verkehrschaos draußen und redet über seinen früheren Freund Assad. Davutoglu spricht leise und zögernd, er erwähnt seine letzten Besuche in der syrischen Hauptstadt vor dem endgültigen Bruch. Assad glaube allen Ernstes, den Krieg gewinnen und die Opposition militärisch besiegen zu können, sagt Davutoglu. „Ich nenne das die Illusion der Diktatoren“, doziert er. „Sie glauben, dass sie mit etwas Zeitgewinn die Situation unter Kontrolle bringen können.“
Dieser Text erschien am 17. März auf der Dritten Seite des gedruckten Tagesspiegel.
Er will mehr als bloße Zugeständnisse der Europäer
Es ist vielleicht die größte Fehleinschätzung des ehemaligen Politik-Professors. Vier Jahre nach der Fahrt durch den Istanbuler Stau ist Assad noch immer im Amt, und dank der russischen Militärhilfe in den vergangenen Monaten gibt es derzeit niemanden, der ihm ernsthaft gefährlich werden könnte. Inzwischen redet Davutoglu nicht mehr von der „Illusion der Diktatoren“, sondern fordert eine Schutzzone im Norden Syriens. Damit will er die syrische Opposition stärken, Flüchtlingen eine Zuflucht bieten und kurdische Autonomiebestrebungen bekämpfen. Doch niemand im Westen unterstützt das türkische Projekt.
Die neue türkische Außenpolitik, die Davutoglu in seinem Buch in der Theorie skizziert hat, ist in der praktischen Anwendung bisher mäßig erfolgreich. Erklärtes Ziel seiner Politik war, „null Probleme“ mit den Nachbarn der Türkei zu haben. Stattdessen befindet sich das Land heute in einer Situation wieder, in der es praktisch null Freunde hat. Die Beziehungen zu Ägypten, Israel, Syrien, Irak und Iran sind zerrüttet, hinzu kommt ein Streit mit der Großmacht Russland wegen des Syrien-Konfliktes, ausgelöst durch den Abschuss eines russischen Kampfflugzeuges durch die türkische Luftwaffe im vergangenen November.
Auch deshalb ist der EU-Gipfel für Davutoglu nun so wichtig. Die Beziehungen zur EU sind das einzige politische Feld, in dem er glänzen kann. Sollten die Europäer, wie von ihm verlangt, im Juni den Visumszwang für Besucher aus der Türkei aufheben, wäre das ein wichtiger Erfolg für den Premier.
Das freundliche Lächeln sei Fassade, heißt es
Aber Davutoglu will mehr als Zugeständnisse der Europäer. Das freundliche Lächeln des Premiers sei nur Fassade, warnt der Politologe Özkan. „Davutoglu ist wesentlich gefährlicher als Erdogan.“ Während der Präsident ein an Macht interessierter Pragmatiker sei, werde Davutoglu von ideologischen Vorstellungen angetrieben. „Bei Erdogan weiß man wenigstens, woran man ist.“
Özkan nennt Davutoglu einen „Pan-Islamisten“, der die Vereinigung der islamischen Welt unter türkischer Führung anstrebe. Mit der West-Ausrichtung der Türkei kann er demnach nicht viel anfangen. Selbst die Reformen der Osmanen im 19. Jahrhundert, mit denen die Sultane das marode Reich modernisieren und den Anschluss an die westlichen Industrienationen schaffen wollten, halte Davutoglu für einen historischen Fehler.
„Er glaubt wirklich, dass die AKP eine heilige Mission hat und bis zum Jüngsten Tag regieren sollte“, sagt der Politikwissenschaftler, der hunderte Zeitungsbeiträge und andere Texte aus Davutoglus frühen Jahren ausgewertet hat. In diesen Schriften, zu denen sich Davutoglu auch heute bekenne, sowie in seinem Buch „Strategische Tiefe“ zeichne der Premier das Bild einer Türkei, die zur Führungsmacht bestimmt sei.
Davutoglu muss liefern
Zunächst aber muss er seinen Führungsanspruch in der Türkei verteidigen. Erdogan plant derzeit die Einführung eines Präsidialsystems. Laut Özkan sieht der Ministerpräsident darin eine ernste Gefahr für sich selbst. „Wenn Erdogan kriegt, was er will, ist Davutoglu überflüssig, es wäre das Ende für ihn“, sagt der Politologe.
Vielleicht wagt sich Davutoglu deshalb in jüngster Zeit ein wenig weiter aus der Deckung. So ärgerte er Erdogan kürzlich, indem er erklärte, der Präsident sei zwar der „legendäre“ Gründer der AKP, doch er selbst sei der aktuelle Chef. Umgekehrt funkt ihm Erdogan in Europa dazwischen, was die Frage aufwirft, was Davutoglus Vorschläge, Zusagen und Positionen in Brüssel wert sind. Während der Premier vor zehn Tagen mit seinen EU-Kollegen über die Milliarden für die Flüchtlingsversorgung in der Türkei redete, maulte Erdogan, bisher sei noch keine Zahlung eingetroffen. „Ich hoffe, er kommt mit dem Geld zurück“, sagte Erdogan über Davutoglu. Das gilt auch für das morgige Treffen: Davutoglu muss liefern.
Dieser Text erschien am 17. März auf der Dritten Seite des gedruckten Tagesspiegel.