Hauptstadt Kiew in der Ukraine-Krise: Angst als Alltag
In Kiew wirkt alles ruhig – auch wenn die Furcht der Ukrainer vor einem Einmarsch steigt: Die Menschen sind genervt von der Panik des Westens.
Von Panik in der ukrainischen Hauptstadt kaum etwas zu spüren. Bei strahlendem Sonnenschein demonstrieren am Samstag die einen gegen den Krieg, während die anderen ihr Wochenende in den zahlreichen Cafés und Restaurants der Stadt genießen. Von Hamsterkäufen oder gar Fluchtbewegungen keine Spur. Wer westliche Medienberichte verfolgt, muss sich in der ukrainischen Hauptstadt Kiew wie in einem Paralleluniversum vorkommen.
Zur gleichen Zeit reduzieren westliche Botschaften ihre Präsenz, die EU fordert Ausländer auf, das Land zu verlassen. Vorausgegangen waren Warnungen amerikanischer Geheimdienste, Russland könne die Ukraine erneut angreifen. Sogar ein Datum wurde zunächst kommuniziert: Mittwoch, 16. Februar.
Unterdessen versucht die ukrainische Regierung fast schon verzweifelt, zu beruhigen. Doch gehört wurden Beschwichtigungsversuche des ukrainischen Präsidenten schon in der Vergangenheit offenbar nicht. Entsprechend erbost zeigte sich Wolodymyr Selenskyj bei einer Militärübung im südukrainischen Cherson. „Die Wahrheit ist: Wir haben andere Informationen“, sagte er zu Journalisten. „Der beste Freund unseres Gegners ist Panik.“ Die werde derzeit vor allem durch die vielen Berichte über einen drohenden Angriff am kommenden Mittwoch geschürt. „Das hilft uns nicht“, kritisierte Selenskyj. Alles sei unter Kontrolle.
Während viele Ukrainerinnen und Ukrainer die dramatischen Warnungen aus den USA schwer nachvollziehen können, sind manche auch enttäuscht vom Verhalten westlicher Regierungen. „Jegliche Verschärfung der Situation zeigt, dass wir auf unsere Partner nicht zählen können. Jetzt verlassen die Ausländer das Land und wir müssen unsere Probleme mit Russland selbst bewältigen“, sagt Katja Pomasanna, die in Kiew bei einer Menschenrechtsorganisation arbeitet.
Die Ausländer können ausreisen - die Ukrainer müssen bleiben. Wie seit acht Jahren.
Auch Andreas Umland, Analytiker am Stockholmer Zentrum für Osteuropastudien, kritisiert den Abzug vieler ausländischer Mitarbeiter internationaler Organisationen als „peinlich“. Es sei eine Antwort auf Putins Psychospiele. „Das Problem ist: Die Ausländer können ausreisen, aber die Ukrainer müssen hierbleiben. Und gleichzeitig können sich russische Politiker, Wirtschaftsvertreter und Diplomaten frei im Westen bewegen.“
Inwieweit sich die Sicherheitslage in Kiew tatsächlich verändert hat, ist schwer zu sagen. Nach Angaben des ukrainischen Verteidigungsministers Oleksij Resnikow hat Moskau derzeit etwa 140 000 Soldaten an der Grenze zur Ukraine stationiert. Der Kreml spricht weiterhin von Militärübungen.
Dass viele Ausländer aufgerufen sind, das Land zu verlassen, führt zu Unbehagen. Die Nachrichten seien durchaus beunruhigend, sagen viele an diesem Wochenende auf Kiews Straßen. Und schieben dann oft einen Satz hinterher: „Aber wir leben damit schon seit acht Jahren.“
So lange herrscht Krieg in der Ostukraine. Warum ausgerechnet jetzt die Angst im Westen so groß ist, versteht auch Katja Pomasanna nicht. „Mich stört, dass irgendwelche Experten in Washington uns erklären wollen, wann und wie sehr wir Angst haben sollen und dabei die Tatsache ignorieren, dass wir schon seit acht Jahren Krieg haben“, sagt sie im Gespräch mit dem Tagesspiegel.
Die Flugtickets raus aus dem Land werden knapp
Seit Samstagnachmittag sind Direktflüge von Kiew nach Berlin ausverkauft, die Ticketpreise stiegen schnell. Wer noch ein Bordkarte ergatterte, konnte schon am Sonntag nicht mehr sicher sein, ob am Montag noch geflogen werden kann. Schnell verbreitete sich die Nachricht, dass Flugzeuge für den ukrainischen Luftraum keine Versicherung mehr erhalten sollen. Das führe dazu, dass viele Flüge gestrichen werden müssten, berichten ukrainische Medien.
Mychailo Podoljak, ein Berater des Stabschefs des Präsidenten, sprach von einer „Teil-Blockade“. Die Ukraine aber sehe keinen Grund dafür, ihren Luftraum zu schließen.
Der Nervenkrieg auf internationaler Bühne birgt gleichzeitig Risiken für die Beziehungen zwischen dem Westen und der Ukraine. In der ukrainischen Bevölkerung wächst das Gefühl, Spielball internationaler Großmächte geworden zu sein. „Wir entscheiden in diesem Spiel nichts. Unsere Stimme fehlt komplett. Es wird über unseren Kopf hinweg entschieden, es wird über unser Schicksal und unser Leben entschieden“, klagt Pomasanna.
Während EU-Ratspräsident Charles Michel auf Twitter „Solidarität mit der Ukraine“ verkündete, ist die Wahrnehmung in Kiew derzeit eine andere.
„Wir lassen dieses Land im Stich“, sagen die zur Ausreise gezwungenen ausländischen Mitarbeiter internationaler Institutionen hinter vorgehaltener Hand. Bei vielen in Kiew sind die Erwartungen an den Besuch von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) am Montag gering. „Mir scheint, man kommt nur noch zu uns, um die Illusion aufrechtzuerhalten, dass unsere Meinung wichtig sei“, sagt Pomasanna wütend.