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Bundeskanzlerin Angela Merkel und Kanzleramtschef Helge Braun waren mit den Ergebnissen des Corona-Gipfels nicht zufrieden.
© Imago

Weil die Landesfürsten zaudern: Angela Merkel versucht das Corona-Bündnis direkt mit den Bürgern

Aus ihrer Unzufriedenheit über den Corona-Gipfel machte die Bundeskanzlerin kein Geheimnis. Am Tag danach geben ihr die Wissenschaft und aktuelle Zahlen Recht.

Angela Merkel erinnert an Udo Lindenberg, genauer gesagt an sein Lied „Mein Ding“, darin heißt es: „Ich mach mein Ding, Egal was die anderen sagen. Ich geh meinen Weg, Ob gerade ob schräg, das ist egal. Ich mach mein Ding.“

Es gab bei den fast achtstündigen Beratungen im Kanzleramt nicht den einen großen Gegenspieler unter den Ministerpräsidenten, aber die Summe der Einzelbedenken und der Schlupflöcher-Suchenden führten am Ende gegen 21 Uhr zu ihrem schonungslosen Fazit, als das Gesamtpaket weitgehend stand: „Die Ansagen von uns sind nicht hart genug, um das Unheil von uns abzuwenden. Es reicht einfach nicht, was wir hier machen.“ Und der Tag danach gibt Merkel Recht.

Sie wusste natürlich, dass das sofort nach draußen dringt, so wie die Warnung im CDU-Präsidium vor „Öffnungsdiskussionsorgien“ in der ersten Welle oder ihre Rechnung mit täglich 19.200 Neuinfektionen bis Weihnachten. Die Kanzlerin hat in der Endphase der Kanzlerschaft nichts mehr zu verlieren, und macht gar nicht mehr den Versuch, Ärger und Frust zu kaschieren – in der Hoffnung, dass einige aufwachen.

Am Donnerstag springt ihr auch die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina bei, das Beschlossene sei nicht ausreichend: „In den kommenden Tagen und Wochen kann die Eindämmung der Pandemie nur noch dann gelingen, wenn die Bundesländer verpflichtende und einheitliche Schutzmaßnahmen vereinbaren und durchsetzen“, sagt Präsident Gerald Haug.

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„Sie müssen bereits ab 35 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner in den letzten sieben Tagen verpflichtend gelten und nicht nur als Empfehlung formuliert sein“, so Haug. Genau das wollte auch Merkel bundesweit, am besten eine verpflichtende Sperrstunde ab 22 Uhr bei 35 Neuinfektionen je 100.000 Einwohner. Und nicht erst, wie nun beschlossen, ab 23 Uhr bei Überschreiten der 50er-Grenze.

Merkel und Braun versuchen es nun quasi mit einem Bündnis mit dem Bürger, über die Köpfe der zögerlichen Länderfürsten hinweg. Die Botschaft ist: Jeder muss jetzt mitmachen, lieber zu Hause bleiben, als zu reisen, Regeln einhalten.

Es ist schon eine verbale Ohrfeige, die Braun am Tag nach dem Gipfel im ARD-Morgenmagazin verteilt: „Deshalb kommt's jetzt auf die Bevölkerung an. Dass wir nicht nur gucken: Was darf ich jetzt? Sondern wir müssen im Grunde genommen alle mehr machen und vorsichtiger sein als das, was die Ministerpräsidenten gestern beschlossen haben.“ Als hätten er und Merkel nicht dabeigesessen – letztlich ist der Beschluss einer von Bundesregierung und Bundesländern.

Wenn die Zahlen nicht unter Kontrolle zu bekommen sind, gar ein zweiter Lockdown näher rückt, kann Merkel auf die „MP’s“ verweisen. Zugleich hat sie spürbar die Dinge nicht mehr so unter Kontrolle wie im Frühjahr. Merkel hatte die Ministerpräsidenten wegen der ernsten Lage und weil sich von Angesicht zu Angesicht besser verhandeln lässt, erstmals seit Juni persönlich wieder ins Kanzleramt gebeten.

Dazu ließ sie als Gast Michael Meyer-Hermann, den Leiter der System-Immunologie am Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung in Braunschweig, einen eindringlichen Vortrag halten, er berechnete detailliert wie steil die Kurven sich entwickeln, wenn nicht jetzt engagierter gegengesteuert wird und dass der wirtschaftliche Schaden ohne Handeln am Ende viel größer sei.

Es sei nicht fünf vor zwölf, sondern schon zwölf, sagte er. Und empfahl eine Halbierung der Kontakte und sogar Ausreisesperren aus Risikogebieten. „So ein Fest für die AfD will aber keiner haben“, heißt es dazu aus einer Staatskanzlei.

Bayerns Ministerpräsident Markus Söder ist von den Unions-Länderchefs mit am deutlichsten weiter an Merkels vorsichtiger Seite, Bayern führt nun bereits ab dem 35er-Grenzwert Sperrstunden und Alkoholverkaufsverbote für betroffene Regionen ab 23 Uhr ein, dazu eine Maskenpflicht auf stark frequentierten öffentlichen Plötzen, in Firmen, Ämtern und am Platz bei Kulturveranstaltungen. 

Bayerns Ministerpräsident Markus Söder ist weiter an Merkels vorsichtiger Seite.
Bayerns Ministerpräsident Markus Söder ist weiter an Merkels vorsichtiger Seite.
© Matthias Balk/dpa

Ein Beschluss, der Merkel am Tag danach weniger schmecken dürfte: Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU), der schon die 50er-Grenze für ein zu scharfes Schwert hält, ließ die Beherbergungsverbote für Reisende aus Risikogebieten kippen.

Im Osten ist das Infektionsgeschehen niedrig, das Verständnis für einschneidende Maßnahmen, die in diesem Fall das lokale Gastgewerbe betreffen, gering ausgeprägt. Die Debatte um das Beherbergungsverbot zeigte denn auch in der Runde im Kanzleramt, wie wenig koordiniert die Politik in diese zweite Welle hineingestolpert ist.

Und wie man sich hier verhakte. Der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) betonte, einige beschlossene Maßnahmen haben Wirkung, andere, die keine Wirkung haben, sollten entfallen. Das Beherbergungsverbot für Reisende aus innerdeutschen Risikogebieten sei „nicht zielorientiert wirksam und nicht verhältnismäßig“.

Ihm sekundierte sein Vizekandidat bei der Bewerbung um den CDU-Vorsitz, der sonst auch eine strenge Linie verfolgende Gesundheitsminister Jens Spahn, das „Freitesten“, also ein negativer Corona-Test, der ein Übernachten woanders erlaubt, verschärfe die Engpässe bei den Testkapazitäten.

NRW-Ministerpräsident Armin Laschet (M.) und Gesundheitsminister Jens Spahn (2.v.l.) sind bei den Corona-Maßnahmen forscher unterwegs.
NRW-Ministerpräsident Armin Laschet (M.) und Gesundheitsminister Jens Spahn (2.v.l.) sind bei den Corona-Maßnahmen forscher unterwegs.
© Bernd von Jutrczenka/dpa

Zuletzt wurden bundesweit 1,17 Millionen Tests in einer Woche gemacht von denen 2,48 Prozent positiv waren. Aber wegen der steigenden Fallzahlen braucht es alle Test- und Laborkapazitäten. Auf Laschet folgten die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin Malu Dreyer, Hamburgs Bürgermeister Peter Tschentscher, auch die beiden SPD-Politiker stellten die Regelung in Frage.

Richtig hart blieben nur Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Reiner Haseloff (CDU), Brandenburgs Dietmar Woidke (SPD) – und Mecklenburg-Vorpommerns Ministerpräsidentin Manuela Schwesig (SPD), wo für Urlauber wie aus Berlin eine mindestens 5-tägige Quarantänepflicht gilt, die nur mit einem negativen Test beendet werden kann.

Sie war nach der Runde noch spät bei Sandra Maischberger in der ARD und gab da ihrem Parteifreund, Berlins Regierendem Bürgermeister Michael Müller (SPD), kräftig einen mit: „Es hat in erster Linie der die Verantwortung, der ein Risikogebiet hat“, sagte sie. Seit Mai gäbe es die Quarantäneregeln, es habe bisher nur kaum jemanden interessiert, weil es kaum Risikogebiete gab.

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Es habe nicht den Mut gegeben, den Leuten rechtzeitig zu sagen, die können nicht mehr reisen, wenn man Risikogebet ist. Wenn man entscheide, ein Risikogebiet bedeute Sperrstunde und noch stärkere Kontaktbeschränkungen, „dann kann ich doch nicht so tun, dass ich woanders hinreisen kann, und da gelten dann keine Regeln“, betonte Schwesig Richtung Müller.

Der wird jetzt auch gemessen werden an seinem im Kanzleramt gegebenen Versprechen, in Berlin werde die Einhaltung der Regeln nun strenger von Ordnungsämtern und Polizei kontrolliert, denn hier liegt der Hase in der Hauptstadt ja auch im Pfeffer.

Müller war in der Runde ebenfalls gegen die Beherbergungsverbote, überraschend schwenkte auch Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann in das Lager der Skeptiker, am Donnerstag wurde von seinem Verwaltungsgerichtshof die Regelung ohnehin kassiert. Saarlands Ministerpräsident Tobias Hans (CDU) verwies auf kaum Infektionen in Hotels.

Schwenkte überraschend ins Lager der Skeptiker: Winfried Kretschmann, Ministerpräsident von Baden-Württemberg.
Schwenkte überraschend ins Lager der Skeptiker: Winfried Kretschmann, Ministerpräsident von Baden-Württemberg.
© Sebastian Gollnow/dpa

Merkel war und ist dagegen das Signal wichtig, Reisen gerade auf ein absolutes Minimum zu beschränken, dabei hatte sie selbst noch im September zu Urlaub im Inland oder Italien aufgerufen. Aber eine administrative Unterführung ihres Appells gibt es vorerst nicht – und so konnte an einer wichtigen Stelle bisher eben keine Klarheit und Stringenz geschaffen werden. Letztlich fragte Merkel in der Runde Söder, was er meine, dessen Antwort in der Runde laut Länderangaben: „Natürlich läuft das Ding öffentlich nicht gut Ich bin unentschlossen.“ 

Immerhin konnte Merkel in der Runde einen von ihr gewünschte Notfallmechanismus durchsetzen. Sinken die Zahlen in einem Hotspot nicht binnen zehn Tagen, werden Kontaktbeschränkungen greifen, „die den Aufenthalt im öffentlichen Raum nurmehr mit 5 Personen oder den Angehörigen von zwei Hausständen gestattet.“ Sie bekommt jeden Tag die RKI-Zahlen, wo welche Gesundheitsämter überfordert sind. Studenten, Bundesbeamte und bis zu 15.000 Soldaten sollen nun helfen, die Kontakte der täglich nun über 6000 Neuinfizierten nachzuverfolgen.

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Im März gab es die Bilder der Militärlastwagen in Bergamo, die die Toten abtransportierten. Ein Ministerpräsident erzählt, wie sehr allen da bei den Beratungen mit der Kanzlerin der Schreck in die Glieder fuhr, das führte zu großer Einigkeit – und zu einigen überhasteten Maßnahmen wie Kita und Schulschließungen.

Aber über den Sommer sank und sank das Durchschnittsalter der Infizierten und damit zunächst auch die Zahl schwerer Fälle, zugleich machten Unternehmen, das Hotel- und Gaststättengewerbe und die Kulturbranche mächtig Druck, wieder mehr zuzulassen, damit der wirtschaftliche Absturz nicht zu hart wird. Auch die Zuschauer durften wieder in so manches Fußballstadion. Merkel sah das alles seit Monaten skeptisch.

Genauso wie Kanzleramtschef Braun, er mahnte im Vorfeld ein Treffen von „historischer Dimension“ an, die Formulierung fand sogar Eingang in das Bund/Länder-Beschlusspapier: „Diese Aufgabe hat auch eine historische Dimension: Die Staaten, denen es gelingt, die Infektionskontrolle zu erhalten, werden wirtschaftlich und sozial besser durch die Krise kommen“.

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Merkel will die mögliche Karte von Weisungen durch den Bund bisher lieber nicht spielen, das würde wohl mehr Schaden und Ärger anrichten als dass es nutzt. Aber es sind reihenweise schlechte Indikatoren: Die Verdopplungszeit der aktiven Fälle liegt nur noch bei zwei Wochen. Die Zahl der schweren Fälle steigt, es infizieren sich wie von den Experten vorhergesagt auch wieder mehr ältere Bürger.

Und Merkels zum Teil als alarmistisch kritisierte Warnung von bis zu 19.200 Neuinfektionen bis Weihnachten könnte sich als viel zu positiv herausstellen. Sie hatte das mit der Verdopplung der täglichen Fallzahlen alle vier Wochen begründet, doch das Wachstum ist derzeit exponentiell: Statt 4800 Neuninfektionen am Tag Ende Oktober, 9600 Ende November und dann 19200 bis Ende Dezember, sind es jetzt schon fast 7000.

Was bis Weihnachten dann eher auf fast 30.000 Neuninfektionen am Tag hinauslaufen könnte. Das würde zwangsläufig zu vielen traurigen Einzelschicksalen ausgerechnet in der Weihnachtszeit führen – und könnte zudem erhebliche Einschränkungen bedeuten, gerade auch für Besuche zum Heiligen Fest, größere Weihnachtsmärkte würde es nicht geben und der Weihnachtseinkauf würde sich noch mehr ins Netz verlagern. Und so könnte Merkel mit ihrer Prognose Recht behalten, dass man schon in zwei Wochen die nächste Krisenrunde erleben wird, da das bisherige nicht reicht.

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