Denkwürdige letzte Regierungsbefragung: Angela Merkel hat "noch so viele Gedanken im Kopf"
„Im Großen und Ganzen vieles richtig gemacht.“ Ob Pandemie, Digitalisierung, Mieten oder Klimaschutz – die Kanzlerin zieht im Bundestag für sich Bilanz.
Als es zu Ende ist, will Angela Merkel noch was sagen, doch ihr Mikrofon ist schon abgestellt. Doch Petra Pau, die Bundestagsvizepräsidentin, hat die letzte Regierungsbefragung der Kanzlerin schon für beendet erklärt. Als Merkels Mikro doch nochmal rot leuchtet, sagt sie: „Ich bedanke mich, dass Sie ihren Regeln entsprechend handeln.“
So ist sie, leichter Uckermärkischer Spott. Dann packt sie ihre Tasche, eilt schneller als die Fotografen zum Ausgang des Reichstags und steigt im Regen in den Wagen ein, sie muss gleich den neuen US-Außenminister Blinken im Kanzleramt empfangen.
Es ist die Woche der Abschiede vom Parlament, an diesem Donnerstag folgt die wahrscheinlich letzte Regierungserklärung – die Symbolik könnte kaum größer sein, in der Aussprache dazu wird ihr Favorit für die Nachfolge, CDU-Chef Armin Laschet, reden und sicher einen Lobeslorbeerkranz flechten, als Vertreter des Bundesrats kann der nordrhein-westfälische Ministerpräsident das Wort ergreifen.
Merkel gerät in der Regierungsbefragung selbst etwas ins Staunen. „Man glaubt es nicht, als ich Bundeskanzlerin wurde, gab es das iPhone noch nicht.“ Niemand hätte damals gewettet auf eine fast so lange Kanzlerschaft wie Helmut Kohl.
Dem Anfang wohnte kein Zauber inne, mit größter Mühe konnte die SPD nach der Abwahl von Gerhard Schröder und seiner Absage an eine große Koalition unter Merkels Führung am Wahlabend („Wir müssen die Kirche doch mal im Dorf lassen“) in so ein Bündnis gelotst werden, heute ist es schon das dritte dieser Art.
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In ihrer ersten Regierungserklärung am 30. November 2005 fragte Merkel damals: „Für wen mag das heute wohl die größte Überraschung sein? Wer hätte noch vor einigen Wochen und Monaten gedacht, dass heute eine große Koalition antritt, um unser Land gemeinsam in die Zukunft zu führen?“
Freiheit als größte Überraschung
Das sei aber wahrlich nicht die größte Überraschung ihres Lebens. „Die größte Überraschung meines Lebens ist die Freiheit. Mit vielem habe ich gerechnet, aber nicht mit dem Geschenk der Freiheit vor meinem Rentenalter.“ Im Juli wird Merkel 67 Jahre alt und geht bald in die politische Rente, die 16 Jahre bis dahin waren selten frei bestimmt und entspannt, stets im Dienst und dem Amtseid verpflichtet.
2018 im Asylstreit schien die Kanzlerschaft fast am Ende - aber sie schaffte es anders als Gerhard Schröder bis heute, das Stellen der Vertrauensfrage als Ultima Ratio im Plenum zu vermeiden.
„Alle Wege vor 1989 endeten an einer Mauer, die nur wenige Meter von diesem Platz entfernt unser Land für alle Zeit zu zerschneiden schien“, sagte Merkel 2005. „Wenn Sie schon einmal in Ihrem Leben so positiv überrascht wurden, dann halten Sie vieles für möglich.“ Sie wurde dann auch oft negativ überrascht. Finanzkrise, Eurokrise, Fukushima, die Polarisierung durch ihre Flüchtlingspolitik. Aber in der Ruhe liegt die Kraft – auch darin liegt die Dauer der Kanzlerschaft begründet.
Und der Bogen in jene letzte reguläre Sitzungswoche des Bundestags vor der Wahl am 26. September hat zwangsläufig Bilanzcharakter. Merkel trifft zu früh ein, und kann noch der wenig erfreulichen Bilanz des endenden NATO-Einsatzes in Afghanistan lauschen, der ihre gesamte Amtszeit begleitet hat, auf der Tribüne sitzen Soldaten, der auch aus dem Bundestag ausscheidende SPD-Politiker Fritz Felgentreu erinnert an die 53 in Afghanistan gefallenen Bundeswehrsoldaten.
Es zeigt sich nochmal Merkels Methode
Bei der anschließenden Regierungsbefragung zeigen sich noch einmal Schlüsselmerkmale, warum sich die ostdeutsche Physikerin so lange an der Macht halten konnte - den Charakter eines Kreuzverhörs gibt es nur selten, dazu ist Merkel zu sehr Profi.
Da ist ihre Akribie, die Neugier, sich überall bis ins letzte Detail einzuarbeiten – und die Gegner damit so zu beeindrucken, dass sie nichts entgegensetzen können. Berechtigte Kritik sieht mitunter dann wie kleinteiliges Lamento aus - ja man habe doch viel gemacht, aber noch nicht alles erreicht, lautet Merkels Credo immer wieder.
Als sie mal wieder ihre Antwortzeit überschreitet, bekennt sie: "Ich hab' aber noch so viele Gedanken im Kopf." Amtsmüde wirkt sie hier keineswegs, immer wieder blättert sie in ihren Unterlagen, sie ist gut munitioniert.
Immerhin räumt sie auf Nachfrage des Grünen-Abgeordneten Oliver Krischer ein, dass in Sachen Klimaschutz mehr hätte passieren können. „Wenn ich mir die Situation anschaue, kann kein Mensch sagen, dass wir genug getan haben.“ Das bezieht sie aber eher auf die internationale Lage. "Die Zeit drängt wahnsinnig." Sie könne die Ungeduld der jüngeren Generation verstehen.
An anderer Stelle nimmt sie detailliert die AfD-Zweifel an der Aussagekraft von PCR-Tests auseinander - und erklärt, was ein Inzidenzwert ist. Am härtesten erwischt es an diesem Tag Carsten Schneider von der SPD, er ist schlecht vorbereitet – Merkel lässt ihn einfach mit nüchternen Antworten wie einen Schuljungen aussehen.
Schneider meint, die Aussage von Markus Söder (CSU), nach der Wahl müsse es einen Kassensturz geben, sei doch ein Misstrauensvotum gegen Merkels Haushaltspolitik. Ob sie denn sagen könne, wie die Neuverschuldung in den nächsten Jahren aussehe. Nun ist Finanzminister Olaf Scholz ein Parteifreund Schneiders und das Kabinett hat ein paar Stunden zuvor den vorläufigen mittelfristigen Finanzplan beschlossen.
Merkel liest Schneider vor: 2022 geplante Neuverschuldung: 99,7 Milliarden Euro. Dann soll, falls möglich wieder die Schuldenbremse mit einer nur noch geringen Neuverschuldung greifen: „5,4 Milliarden 2023, 12,0 Milliarden 2024, 11,8 Milliarden 2025, dazu 6,2 Milliarden noch ungedeckter Finanzbedarf“, referiert die Kanzlerin und fügt in Richtung Schneider hinzu: „Wenn Sie es nicht gelesen haben.“
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Die Mietenexplosion ist ein wunder Punkt
Am weitesten beim Stellen der Kanzlerin kommt Caren Lay von der Linkspartei, sie hat sich akribisch vorbereitet. Die Angebotsmieten seien im Preis in Merkels Amtszeit um 50 Prozent gestiegen, hätten sich komplett entkoppelt von Lohnentwicklung.
Die Zahl der Sozialwohnungen hätte sich um eine Million verringert. „Sind sie zufrieden mit dieser Bilanz?“
Merkel meint, es sei richtig, dass ein hoher Bevölkerungsanteil hohe Belastungen durch Mieten habe – es folgt auch ein Klassiker, ein Ausweichen, leider falle das meiste in die Verantwortung der Länder, trotzdem habe der Bund nochmal fünf Milliarden für den sozialen Wohnungsbau locker gemacht.
Lay kann aber kontern, diese Föderalismusreform, das Verabschieden des Bundes aus der Verantwortung, sei ja in Merkels Amtszeit erfolgt. Merkel wählt nun einen anderen Ausweichschritt: Sie möchte darauf verweisen, dass ja besonders in Berlin die Mieten stark gestiegen seien, wo die Linke mitregiere.
Und nein, Sie sei nicht für einen starren Mietendeckel, wie Lay von ihr einfordert. „Und gewonnen haben Sie auch nicht vor Gericht“, sagt sie mit Blick auf das Kassieren des Berliner Deckels durch das Bundesverfassungsgericht. Zwischenrufe aus der Linken-Fraktion, das sei zynisch. Replik Merkel: „Das ist nicht zynisch, das ist der Sachverhalt.“ Die Redezeit für Lay ist um, die berechtigte Bilanzfrage harrt aber einer Antwort.
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Merkel schmückt sich mit fremden Federn
Als es um die Renten geht, betont Merkel ganz ungefragt: „Seit wird die Grundrente haben, spricht keiner mehr von ihr. Deswegen würde ich sie gerne nochmal erwähnen.“ Auch das gehört mitunter zur Methode Merkel: Dass die aufgestockte Rente für Geringverdiener ein SPD-Projekt war, lässt sie unerwähnt, in Harvard wurde Merkel auch schon einmal als Erfinderin des Mindestlohns angepriesen.
Das Fazit zur defizitären Digitalisierung und Abdeckung mit Glasfasernetzen? „Wir brauchen da unser Licht auch nicht unter den Scheffel stellen, auch wenngleich die Aufgabe auch noch nicht abgeschlossen ist.“ Dann ballt sie die Fäuste und schwingt die Arme nach vorne. Manchmal fehle in Deutschland „noch die Lust“ noch schneller auf digitale Strukturen umzutauschen. Ja, die Widerstände und föderale Strukturen haben auch manches gebremst.
Merkels Politik der kleinen, pragmatischen Schritte, keine Überforderung, durchzieht ihre Kanzlerschaft. "Es hat sich herausgestellt, dass die Vernetzung von vielen kleinen Computern, an vielen Stellen, effektiver ist als der eine Großrechner – der Erfolg des Internets beruht auf genau dieser Philosophie. Deshalb werden wir eine Regierung sein, die diese vielen kleinen Schritte ganz bewusst in Angriff nimmt“, hatte sie ganz am Anfang 2005 gesagt.
Und sie hat davon profitiert, dass sie übervorsichtig war, selten vorschnelle Versprechen machte, die sie wieder kassieren musste. So stellt sie sich explizit nicht hinter Aussagen von Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU), dass allen Kindern ab 12 Jahren bis Ende August ein Impfangebot gemacht werden soll.
„Ich nenne kein neues Datum“ – es bleibe beim Impfangebot für alle bis zum 21. September. Und ja, die Pandemie sei noch nicht vorbei – in der Hochphase hatte das Parlament eine neue Angela Merkel, emotionaler als sonst, fast flehend, erlebt. „Wir bewegen uns immer noch auf dünnem Eis“, sagt sie nun in der Regierungsbefragung.
Aber in allen Wellen konnte eine Überlastung des Gesundheitssystems verhindert werden. „Im Großen und Ganzen würde ich sagen, haben wir auch vieles richtig gemacht,“ dieser Tag ist einer der Selbst-Bilanz, die neutralere durch Historiker wird erst noch geschrieben. Als Ulle Schauws mit Blick auf Annalena Baerbock ketzerisch fragt, ob Merkel sich nicht eine Frau als Nachfolgerin wünscht, antwortet sie diplomatisch, sie sei nach 16 Jahren Angela Merkel der Meinung, "dass die Bürgerinnen und Bürger mündig genug sind, ihre Entscheidung zu treffen, wen sie als Kanzler möchten oder als Kanzlerin."