Pflege: Die Kehrseite der Selbstlosigkeit
Berufstätige, die neben ihrem Job kranke Angehörige zu Hause versorgen, fühlen sich oft überfordert und allein gelassen – die neue Pflegereform soll sie entlasten.
Edwards Mann Norbert sieht aus wie das blühende Leben. Aber genau das ist Teil des Problems. Niemand nimmt dem 60-Jährigen die schwere Krankheit ab. Norbert leidet seit mehr als sieben Jahren an Frontotemporaler Demenz. Bei dieser Krankheit gehen vor allem Hirnregionen unter, die Emotionen und Sozialverhalten kontrollieren. Das sei oft peinlich und ungeheuer nervenaufzehrend, berichtet Edward. „Doch das größte Problem ist der soziale Tod, den wir sterben: Freunde rufen nicht mehr an und Verwandte verstehen nicht, warum sich Norbert so verändert hat.“
Noch braucht Norbert keine Rund-um-die-Uhr-Betreuung, so dass Edward Vollzeit arbeiten gehen kann. Edward weiß aber, dass es einmal anders kommen wird. Irgendwann verlernen Menschen mit Frontotemporaler Demenz alles, sogar selbstverständliche Dinge wie aufs Klo gehen oder schlucken.
Eigentlich hätte Norbert schon heute Anspruch auf die Pflegestufe 0. Damit hätte das Paar 123 Euro mehr im Monat und Edward könnte mal auf Kassenkosten eine Auszeit nehmen. Doch Edward scheut sich, seinen Partner in die Obhut anderer Menschen zu geben. „Da ist ständig ein schlechtes Gewissen“, sagt er. Obwohl er selbst in einer sozialen Einrichtung arbeitet und anderen rät, auch an sich selbst zu denken – sich selbst gönnt er keine Pause. Umso mehr hätte er sich von den vielen Ärzten und Psychologen, die er mit Norbert aufgesucht hat, Unterstützung gewünscht. Aber niemand habe sich für ihn, den Angehörigen, interessiert. „Ich habe mich extrem alleingelassen gefühlt“, sagt Edward.
Beschäftigte haben Rechtsanspruch auf Familienpflegezeit
Pflege- und Sozialverbänden ist das Problem hinlänglich bekannt. Sie fordern schon lange eine bessere Beratung für pflegende Angehörige, die zwei Drittel der rund 2,6 Millionen Pflegebedürftigen zu Hause versorgen. Speziell Angehörige von Demenzkranken liefen permanent Gefahr, psychisch und physisch überfordert zu werden, meint etwa Ulrike Mascher, Präsidentin des Sozialverbands VdK. „Deswegen ist es dringend geboten, dass ihnen während der gesamten Zeit der Pflege eine professionelle Begleitung zur Verfügung gestellt wird“, so Mascher.
Genau diese Forderung blieb bei der jüngsten Pflegereform jedoch auf der Strecke. Obgleich das neue Pflegestärkungsgesetz und das Gesetz zur besseren Vereinbarkeit von Familie, Pflege und Beruf auch ein paar „Sahnehäubchen“ bieten. So haben Arbeitnehmer seit Januar einen Rechtsanspruch auf die Familienpflegezeit, wonach die wöchentliche Arbeitszeit zwei Jahre lang auf 15 Stunden reduziert werden kann.
Ein zinsloses Darlehen für den Verdienstausfall gibt es obendrein. Neu ist auch das Pflegeunterstützungsgeld. Tritt etwa nach einem Schlaganfall ein akuter Pflegefall ein, können Berufstätige zehn Tage freinehmen, um die Pflege zu organisieren. 90 Prozent ihres Lohns wird für diese „Auszeit“ dann von der Pflegekasse bezahlt. Außerdem haben jetzt auch Demenzkranke Anspruch auf Kurzzeit- und Verhinderungspflege.
Nach zehn Pflegejahren findet kaum jemand in den alten Job
Fachleute finden insbesondere die letzten beiden Neuregelungen gut, bemängeln aber fehlende Transparenz und dass ein Großteil der Pflegenden leer ausgeht. Selbstständige, Beamte und Arbeitnehmer in Kleinbetrieben mit weniger als 15 beziehungsweise 25 Mitarbeitern haben zum Beispiel gar keinen Anspruch auf die Pflege- oder Familienpflegezeit, geschweige denn auf den damit verbundenen zinslosen Kredit. Aber selbst wenn: Wer kann sich einen Berufsausstieg schon leisten? Und danach einen Kredit zurückzahlen?
Edward verdrängt lieber den Gedanken, dass er eines Tages vielleicht nicht mehr in vollem Umfang arbeiten kann. Er müsse sich wahrscheinlich hoch verschulden. „Wer wegen der Pflege eines Angehörigen beruflich kürzertreten muss, muss immer mit finanziellen Einbußen rechnen“, bestätigt Frank Schumann von der Fachstelle für pflegende Angehörige in Berlin. Das gelte auch über die eigentliche Pflegedauer hinaus.
Die Mehrheit findet nämlich nach durchschnittlich zehn Pflegejahren nicht mehr in den alten Job zurück. „Diese Menschen sind massiv von Altersarmut bedroht“, warnt Schumann. Pflege, so sein Fazit, könnten sich eigentlich nur Wohlhabende oder Sozialhilfeempfänger leisten.
Die neue Betreuungsleistung sei wenig alltagstauglich
In der Otto-Normalverbraucher-Familie kümmern sich daher meist diejenigen um den Pflegefall, die ohnehin wenig verdienen. In der Regel sind das die Frauen. Dass sich jemand nach Jobausstiegsmodellen wie Pflege- oder Familienpflegezeit erkundigt, kommt laut Petra Fock am Pflegestützpunkt Wilmersdorf so gut wie gar nicht vor. Viel sinnvoller findet die Beraterin deshalb Angebote, die Angehörige im Alltag entlasten. Die neue Betreuungs- und Entlastungsleistung war genau für diesen Zweck gedacht. Bis zu 208 Euro zahlt die Pflegekasse jetzt pro Monat, damit jemand kommt, um mit dem Pflegebedürftigen mal ein Spiel zu spielen und vielleicht nebenbei den Müll zu leeren.
Doch die Leistungen dürfen nur über Pflegeeinrichtungen abgerechnet werden, die Verträge mit den Kassen haben. Da dort aber das Personal knapp ist, findet sich vielerorts niemand, der diese Tätigkeiten übernimmt. Beraterin Fock hält die Umsetzung daher für wenig alltagstauglich. „Es wäre besser gewesen, man hätte das Geld bar ausgezahlt. Dann hätte auch mal der Nachbar gegen einen kleinen Obolus einspringen können.“
Pflegende Angehörige können sich in Berlin bei den 28 Pflegestützpunkten und verschiedenen gemeinnützigen Organisationen beraten lassen. Dort erfahren sie, was ihnen zusteht und wo sie welchen Antrag stellen müssen. Gleichzeitig sind die Berater auch Kummerkasten. Edward hat für sich persönlich Hilfe bei der Alzheimer-Gesellschaft Berlin gefunden. Dort arbeitet er inzwischen im Vorstand mit und nimmt einmal im Monat an einer Gesprächsgruppe teil. Das gibt ihm neue Kraft. „Ich kann nur jedem Angehörigen empfehlen, sich frühzeitig Hilfe zu organisieren“, sagt er. „Ohne jegliche Unterstützung ist es unendlich mühsam, die Herausforderungen zu meistern.“
Beatrice Hamberger