Eingliederungshilfe für Behinderte: Andrea Nahles pocht auf Bundesgesetz
Die Sozialministerin will im Herbst ihr Bundesteilhabegesetz vorlegen und hofft auf finanzielle Spielräume im Bundeshaushalt. Finanzminister Wolfgang Schäuble dagegen sieht weiter Kommunen und Länder in der Finanzverantwortung.
Bundessozialministerin Andrea Nahles (SPD) pocht darauf, dass die Eingliederungshilfe für Behinderte künftig bundesweit geregelt wird. „Wir werden im Herbst einen Vorschlag für ein Bundesteilhabegesetz vorlegen“, sagte Nahles dem Tagesspiegel. „Zentrales Ziel bei der Reform der Eingliederungshilfe ist es, die Lebenssituation von Menschen mit Behinderungen zu verbessern. Dabei werden wir sorgfältig darauf achten, den notwendigen bundeseinheitlichen Rahmen vorzugeben und Handlungsspielräume der Länder zu erhalten.“
Hintergrund ist ein (bislang eher unterschwelliger) Dissens mit Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU). Der ist in seinem Positionspapier zur Bund-Länder-Finanzreform vom Koalitionsvertrag abgerückt, der ein Bundesteilhabegesetz vorsieht und auch eine teilweise Übernahme der Kosten der Eingliederungshilfe, die bisher Kommunen und Länder tragen. Mit Inkrafttreten des Bundesteilhabegesetzes (womit spätestens 2017 gerechnet wird) sollten die Kommunen um fünf Milliarden Euro bei der Eingliederungshilfe entlastet werden. Das steht nun in Frage, Schäuble will diese Summe auf einem anderen Weg transferieren. Im Bundesfinanzministerium wird darauf verwiesen, das in sieben Ländern nicht allein die Kommunen zuständig seien, es also keine reine Hilfe für Städte und Kreise wäre, sondern auch einige Länderetats profitierten. Zudem wird eingewendet, dass die Eingliederungshilfe als individuell zugeschnittene Leistung sich weniger für eine bundeseinheitliche Verwaltung eignet. Schäuble stellt zwar das Bundesteilhabegesetz an sich nicht in Frage, will den Ländern bei der Eingliederungshilfe jedoch eine „beschränkte Gesetzgebungskompetenz“ geben. Das würde die Wirksamkeit eines Bundesgesetzes jedoch deutlich mindern. Die Finanzierungsverantwortung solle zudem „vollständig dezentral bei Ländern und Kommunen“ bleiben, so Schäuble in seinem Papier. Damit ist Nahles nicht einverstanden. „Finanzierungsfragen werden im Zuge der Erarbeitung des Gesetzes geklärt“, sagt sie.
Wachsende Ausgabendynamik?
Hintergrund des Zwistes ist unter anderem auch die Meinung des Finanzministeriums, dass eine Beteiligung des Bundes an der Eingliederungshilfe zu einer stark wachsenden Ausgabendynamik führt. Im Jahr 2012 gaben Kommunen und Länder brutto 16,5 Milliarden Euro für die Eingliederungshilfe aus. Im Jahr 1994 hatten die Ausgaben noch bei 6,3 Milliarden Euro gelegen. Der Anstieg liegt auch daran, dass sich in dem Zeitraum die Zahl der Empfänger mehr als verdoppelt hat. Im Bundesfinanzministerium wird darauf verwiesen, dass die Leistungen sich in den Ländern sehr stark unterschieden. Sie reichen im Schnitt von knapp 9000 Euro je Fall und Jahr in Sachsen bis zu 25000 Euro in Bremen. Schäubles Abrücken vom Koalitionsvertrag ist offenbar mit den Koalitionsspitzen abgestimmt. Die Sozialministerin war dem Vernehmen nach daran nicht beteiligt.
Nahles hofft, dass sich im Laufe der Legislaturperiode im Bundeshaushalt finanzielle Spielräume auftun, um Leistungsverbesserungen zu bezahlen. Bei den Behindertenverbänden hat das Ministerium schon allein dadurch hohe Erwartungen geweckt, dass diese in einem intensiven Beteiligungsverfahren ihre Reformwünsche einbringen durften. So fordern die Verbände unter anderem, die bestehenden Einkommens- und Vermögensgrenzen abzuschaffen. Nach derzeitigem Recht dürfen Menschen mit Behinderung, die auf staatlich finanzierte Assistenz angewiesen sind, nicht mehr als 2600 Euro ansparen. Sollten diese Grenzen fallen, würde das Schätzungen zufolge bis zu 580 Millionen Euro kosten. Auch die Behindertenbeauftragte der Bundesregierung, Verena Bentele, hatte zuletzt mehrfach darauf beharrt, dass es mit einem Bundesteilhabegesetz ein modernes Teilhaberecht geben müsse. Es sei fraglich, wie dies ohne zusätzliche Haushaltsmittel gelingen solle.
Zuletzt hatte sich Schäuble mit Familienministerin Manuela Schwesig (SPD) wegen der steuerlichen Förderung für Alleinerziehende angelegt. Schwesig hatte eine deutliche Verbesserung verlangt, die der Finanzminister nur akzeptieren wollte, wenn sie aus Schwesigs Ressortetat bezahlt würde. Am Donnerstag gab es einen Kompromiss: Ein Viertel der Steuerausfälle in Höhe von 100 Millionen Euro jährlich muss das Familienministerium finanzieren, der Rest entfällt auf Schäubles großen Steuertopf.