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Soldat vor Panzer auf Kiste mit Zigarette, schaut nach unten
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Feuerpause in Ostukraine: Amnesty: Kriegsverbrechen durch Armee und Separatisten

Bis auf kleinere Zwischenfälle wird der am Freitag vereinbarte Waffenstillstand in der Ostukraine offenbar eingehalten. Menschenrechtler werfen allen Konfliktparteien Kriegsverbrechen vor. Malaysia und Australien wollen wissen, was mit Flug MH17 passiert ist.

Die vereinbarte Feuerpause für die umkämpfte Ostukraine ist am Samstag Vormittag örtlichen Behörden zufolge eingehalten worden. Nach monatelangen Gefechten hätten die Regionen um die Separatistenhochburgen Donezk und Lugansk eine ruhige Nacht erlebt, teilte die Stadtverwaltung von Donezk am Samstag mit.

Nach dem Vorwurf der Separatisten gegen die ukrainischen Regierungstruppen, die Waffenruhe im Osten des Landes gebrochen zu haben, hat Kiew umgekehrt die Separatisten eines Bruchs der Feuerpause beschuldigt. "Wir haben eine Reihe von Provokationen durch die Rebellen vorliegen", sagte Armeesprecher Andrej Lyssenko am Samstag vor Journalisten. Die Separatisten hätten am Freitag 28 Mal auf ukrainische Einheiten geschossen, zehn der Vorfälle hätten sich nach Inkrafttreten der Waffenruhe ereignet.

Zuvor hatten bereits die Separatisten den Regierungstruppen vorgeworfen, die Waffenruhe gebrochen zu haben. Nach Angaben des Separatistenvertreters der selbsternannten Volksrepublik Donezk, Wladimir Makowitsch, gab es in den Außenbezirken von Donezk am Freitagabend Raketenbeschuss. Zudem sei aus der nahegelegenen Region Saporischija ein Konvoi mit schweren Waffen eingetroffen. Auch der selbsternannte Regierungschef der "Volksrepublik Donezk", Alexander Sachartschenko, sagte, es sei "zu früh, um von einer kompletten Waffenruhe zu sprechen". Ukrainische Truppen hätten das Dorf Amwrossijiwka etwa 80 Kilometer von Donezk beschossen, sagte er der russischen Nachrichtenagentur RIA Nowosti.

Dem Militärexperten Tymtschuk zufolge könnten die Konfliktparteien noch am Samstag mit einem vereinbarten Gefangenenaustausch beginnen. Ebenfalls für Samstag hatte Russland einen zweiten Hilfskonvoi mit Lebensmitteln für die Ostukraine angekündigt. Moskau hatte vor kurzem eine Kolonne mit mehr als 250 Lastwagen eigenmächtig in die Ostukraine geschickt und damit heftige Proteste ausgelöst.

Amnesty International wirft beiden Seiten Kriegsverbrechen vor

„Alle Seiten in diesem Konflikt haben Missachtung für das Leben von Zivilisten gezeigt und verletzen eklatant ihre internationalen Verpflichtungen“, teilte AI-Generalsekretär Salil Shetty am Samstag mit. Außerdem habe die Menschenrechtsorganisation Beweise dafür, dass Russland den Konflikt anheize, und zwar sowohl durch Unterstützung der Separatisten in der Ostukraine als auch durch direktes Eingreifen.

Helfer haben nach Amnesty-Angaben in der Ostukraine Beweise für willkürlichen Beschuss, Entführungen, Folter und Morde gesammelt. Sie haben mit Augenzeugen gesprochen, die vor Kämpfen bei Donezk, Kramatorsk, Lugansk und anderen Orten geflohen waren. Die Zivilisten berichteten, dass die ukrainische Armee ihre Wohnorte heftig unter Beschuss genommen hätten. Diese Angriffe seien offenbar wahllos gewesen und könnten Kriegsverbrechen sein, vermutet Amnesty. Zeugen berichteten außerdem, separatistische Kämpfer hätten ihre Nachbarn entführt, gefoltert und umgebracht. Einwohner von Slowjansk erzählten etwa, dass Separatisten einen Pfarrer, zwei seiner Söhne und zwei Kirchgänger in ihre Gewalt gebracht und 50 000 US-Dollar Lösegeld gefordert hätten. Als die Gemeinde das Geld zusammenhatte, hätten die Entführer alle Geiseln bereits getötet gehabt.

Am Freitagabend hat der ukrainische Präsident den Befehl gegeben, die Waffen ruhen zu lassen. Seine Ankündigung traf beim Nato-Gipfel in Wales offensichtlich auf großes Interesse.
Am Freitagabend hat der ukrainische Präsident den Befehl gegeben, die Waffen ruhen zu lassen. Seine Ankündigung traf beim Nato-Gipfel in Wales offensichtlich auf großes Interesse.
© dpa

Andere Berichte, die Amnesty als glaubhaft einstuft, beschuldigten freiwillige bewaffnete Gruppen aufseiten der ukrainischen Armee, Menschen zu verschleppen und zu schlagen. „Zivilisten in der Ukraine verdienen Schutz und Gerechtigkeit“, sagte Shetty. „Ohne eine sorgfältige und unabhängige Untersuchung besteht das Risiko, dass die Ukrainer über Generationen unter den Narben dieses Kriegs leiden.“ Satellitenbilder bewiesen, dass Russland unmittelbar in den Konflikt eingreife, hieß es weiter. Sie zeigten unter anderem die Aufstellung neuer, nach Westen gerichteter Geschütze innerhalb der ukrainischen Grenze zwischen dem 13. und dem 29. August. Diese Satellitenbilder in Verbindung mit Berichten über russische Truppen auf ukrainischem Boden ließen keinen Zweifel daran zu, dass dies nun ein internationaler bewaffneter Konflikt sei, sagte Shetty. Der Kreml hat mehrfach bestritten, an den Kämpfen in der Ukraine beteiligt zu sein.

Das Rätsel um Flug MH17

Australien und Malaysia wollen erneut Ermittler an die Absturzstelle von Flug MH17 in der Ostukraine schicken. Dies vereinbarten der australische Ministerpräsident Tony Abbott und sein malaysischer Amtskollege Najib Razak am Samstag. Aufgrund der Kämpfe in der Region waren erste Untersuchungen in dem Trümmerfeld abgebrochen worden. „Ministerpräsident Abbott und ich sind entschlossen, unsere Bemühungen zu verstärken und enger mit den anderen internationalen Partnern zusammenzuarbeiten, darunter die Niederlande und die Ukraine, um sicherzustellen, dass die verbliebenen Opfer ihren Familien übergeben werden können“, sagte Najib nach einem Treffen mit Abbott.

Das Flugzeug der Malaysia Airlines war am 17. Juli mit 298 Menschen an Bord abgestürzt, wahrscheinlich nach Raketenbeschuss. Die ukrainische Führung und die prorussischen Rebellen machen sich gegenseitig dafür verantwortlich. Das Flugzeug war auf dem Weg von Amsterdam nach Kuala Lumpur. An Bord befanden sich überwiegend Niederländer, aber auch 38 Australier. Der erste Bericht zur Ursache des Absturzes soll am Dienstag in Den Haag veröffentlicht werden.

Ukrainische Soldaten dienen nicht gern in der Armee

Der Kriegsdienst stößt bei Ukrainern offenbar auf wachsenden Protest. Viele Soldaten fühlten sich verheizt, sagte der Soziologe Rudi Friedrich am Samstag in Deutschlandradio Kultur. Sie kritisierten zu lange Einsatzzeiten bei den Kämpfen mit den Separatisten und eine schlechte Versorgung in der Armee, berichtete Friedrich. Er ist Mitarbeiter der internationalen Nichtregierungsorganisation „Connection“ zur Unterstützung von Kriegsdienstverweigerern und Deserteuren.

In der Ukraine würden nur Kriegsdienstverweigerer akzeptiert, die religiösen Minderheiten angehörten, betonte Friedrich weiter. Deshalb gebe es Ukrainer, die als Erntehelfer nach Deutschland gekommen seien, um einer Einberufung zu entgehen. Diese stellten nun fest, dass sich die Lage noch nicht beruhigt habe. Kriegsdienstverweigerung sei in Deutschland bislang jedoch nicht als Asylgrund anerkannt, sagte der Soziologe. Er bemängelte zudem, dass es in der Ukraine kein Recht auf nachträgliche Kriegsdienstverweigerung gebe, wenn ein Soldat bereits an der Front war.

Die humanitäre Lage in der Ukraine

Tschechien hat rund eine Tonne Verbandsmaterial in die Ukraine geliefert. Die dringend benötigte Hilfslieferung unter der Leitung des Roten Kreuzes habe inzwischen die Hauptstadt Kiew erreicht, teilte das Außenministerium in Prag am Samstag mit. Die Güter seien für die Behandlung von Verbrennungen und anderen schweren Verletzungen von Zivilisten in der Ostukraine bestimmt. „Es ist unsere Pflicht zu helfen, wenn es um Gesundheit und Leben geht“, teilte der tschechische Außenminister Lubomir Zaoralek mit. Weitere Hilfslieferungen sollen demnach in den kommenden Wochen folgen. Besonders Beatmungsgeräte seien in den Krankenhäusern in Dnjepropetrowsk und Charkow Mangelware, hieß es.

Gespannte Ruhe nach monatelangen Kämpfen. Doch mit der Feuerpause ist es nicht getan. Die Separatisten haben schon angekündigt, dass sie weiterhin für ein Ablösung von der Ukraine kämpfen wollten.
Gespannte Ruhe nach monatelangen Kämpfen. Doch mit der Feuerpause ist es nicht getan. Die Separatisten haben schon angekündigt, dass sie weiterhin für ein Ablösung von der Ukraine kämpfen wollten.
© Reuters

In der Ukraine-Krise setzt das deutsche Goethe-Institut dagegen auf eine Stärkung der Zivilgesellschaft durch zusätzliche Bildungsangebote. Demnächst würden zwei weitere Mitarbeiter für das Goethe-Institut nach Kiew gehen,
kündigte Generalsekretär Johannes Ebert in der Berliner „Tageszeitung“ an. „Wir wollen über Kultur- und Bildungsprojekte die demokratischen Akteure stärken“, sagte Ebert.

Das Goethe-Institut ist nach Eberts Worten seit 1993 in Kiew tätig. Geholfen werde organisatorisch oder bei Diskussionen, wenn es um die künftige Entwicklung der Ukraine in Europa gehe - auch außerhalb Kiews in den Provinzen. Hinzu kämen die großen Sprachprogramme für Menschen, die Deutsch lernen wollen. „Wir pflegen den kulturellen Austausch zwischen Deutschland und der Ukraine, verstärkt auch die Fortbildung ukrainischer Journalisten in Deutschland“, erläuterte der Generalsekretär.

Weitere Sanktionen gegen Russland

Russland hat für den Fall weiterer EU-Sanktionen Gegenmaßnahmen angedroht. “Wenn sie (die Sanktionen) umgesetzt werden, wird es natürlich eine Reaktion von unserer Seite geben“, erklärte das Außenministerium in Moskau am Samstag. Die EU-Botschafter hatten sich am Freitag auf eine Verschärfung der Sanktionen gegenüber Russland verständigt. In Kraft treten sollen sie allerdings erst zu Beginn der Woche. Die EU erklärt zudem,
die zusätzlichen Strafmaßnahmen könnten ausgesetzt werden, wenn Russland seine Soldaten aus der Ostukraine abziehe und die neu vereinbarte Waffenruhe zwischen prorussischen Separatisten und ukrainischen Regierungseinheiten eingehalten werde.
Schon seit Monaten gibt es Sanktionen gegen Russland, die Regierung in Moskau hat mit Gegenmaßnahmen reagiert. Darunter leidet die Wirtschaft beider Seiten. Von den neuen Sanktionen wären laut EU-Diplomaten die Bank des staatlich kontrollierten Energiekonzerns Gazprom und dessen Ölsparte Gazprom Nest betroffen. Für russische Oligarchie sollen Reiseverbote und eine Sperrung von Vermögenswerten gelten. (AFP/KNA/Reuters/dpa/epd)

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