Flüchtlinge in Calais: Am Ärmelkanal herrscht Panik
Tausende Migranten belagern den Eurotunnel in Calais, um nach Großbritannien zu kommen. Die Polizei geht gegen sie an, ist aber überfordert. Das Chaos könne den ganzen Sommer anhalten, warnt der britische Premier Cameron. Er setzt auf Abschottung.
Wenn nicht der „Dschungel“ wäre, käme man von London mit dem Auto durch den Kanaltunnel in knapp zwei Stunden nach Frankreich. Nun dauert die Fahrt – wenn wenn man sie überhaupt wagt – einen Tag. Der „Dschungel“ ist das elende Lager von 4000 Migranten in den Dünen von Calais. Sie versuchen seit Tagen mit dem Mut der Verzweiflung, auf Lastwagen und Güterzüge zu springen, um nach England zu gelangen.
Was die Männer, Frauen und Kinder von Afghanistan bis zum Sudan, von Syrien bis Eritrea als gelobtes Land sehen, ist für britische Urlauber zu Beginn der Hauptferiensaison und Spediteure nun eine reine Verkehrshölle. Die Autobahn zur Küste ist ein gigantischer Parkplatz für Lastwagen, und die Autoverladezüge fallen wegen „Migranten-Aktivität“ ständig aus.
Nach der Sitzung seines Krisenstabes „Cobra“ warnte der britische Premierminister David Cameron am Freitag, dass das Chaos möglicherweise den ganzen Sommer anhalten wird. Um die Lage zu entschärfen, sagte er den völlig überforderten französischen Sicherheitsbehörden Schnüffelhunde und 10 Millionen Euro für die Errichtung eines Hochsicherheitszaunes um den Verladebahnhof bei Calais zu. Die Armee muss in Südengland militärische Einrichtungen als Notparkplätze für Lastwagen zur Verfügung stellen. Das ist freilich nur ein Trostpflaster für die britischen Exporteure, die die Ausfälle auf täglich eine Million Euro beziffern. So musste die Ausfuhr von tiefgekühltem Fisch aus Schottland vorläufig eingestellt werden.
In seiner Rede vermied Cameron seine fatale Einschätzung von vor zwei Tagen, als er die Migranten als „Schwärme, die über das Mittelmeer kamen“, bezeichnet hatte. Diese unbedachte Bemerkung rief helle Empörung bei den Organisationen hervor, die die Not in dem Lager lindern. Leigh Daynes, Direktor von „Médecins du Monde“, empfand dies als „Dehumanisierung der Migranten“, wenn man sie mit Ungeziefer vergleiche, das „eine koordinierte Bedrohung darstellt“. „Doch es sind gewöhnliche Menschen, die unter scheußlichen Bedingungen ihr Leben fristen müssen. Viele von ihnen sind hochgebildet, und viele Doktoren, Zahnärzte und Ingenieure befinden sich darunter. Sie entflohen extremer Gewalt und Armut und hoffen nur auf ein besseres Leben.“
Es geht um das "schlimmste Lager Europas"
Die medizinische Hilfsorganisation spricht von dem schlimmsten Lager Europas, in dem sich nur 30 Wasserstellen befinden und für 3000 Bewohner nur 20 Latrinen zur Verfügung stehen. Diese Einschätzung teilt auch die französische Caritas „Secours Catholique“. Sie vergleicht die Situation mit dem berüchtigten Lager bei Sangatte, das der damalige französische Innenminister Nicolas Sarkozy 2002 nach mehreren Revolten der Insassen schließen ließ. Doch das Problem blieb bestehen. „Viele der Migranten kommen aus Ländern, die von Kriegen und Unruhen gepeinigt werden. Sie sehen Europa als einen Platz der Hoffnung an.“
Für 5000 dieser Flüchtlinge wurde Calais zur Sackgasse. Vergeblich beten sie in der aus Abfallholz zusammengezimmerten Moschee und der äthiopischen Kirche, dass sie einmal die weißen Klippen von Dover erreichen, die von ihren Zeltbehausungen jenseits der 32 Kilometer breiten Meerenge so greifbar erscheinen. Die meisten von ihnen sprechen englisch, haben Verwandtschaftsbeziehungen und Freunde auf der Insel und glauben, dass sie wegen der laschen Kontrollen des Arbeitsmarktes in England einen Job bekommen können.
Da das Vereinigte Königreich jedoch nicht Teil des Schengenabkommens mit der Freizügigkeit in der EU ist, haben sie kaum eine Chance, legal nach Großbritannien zu kommen. Über 30.000 Versuche registrierten die Betreiber des Eurotunnels. Dabei starben bislang neun Migranten durch Unfälle. Wer es doch nach dem an Selbstmord grenzenden Aufspringen auf LKW und Züge schafft, scheitert am „Dublin“-Abkommen und wird von den Briten abgeschoben. Um die Identifizierung zu vermeiden, verbrennen sich Migranten in Calais sogar die Fingerkuppen.
Während Deutschland im vergangenen Jahr 150.000 Asylanträge genehmigte, sind es in Großbritannien gerade 25.000. Besonders prekär sind die Auswirkungen von Calais für die Jugendämter in Südengland. Personen unter 18 Jahren können nämlich nicht ausgewiesen werden, weswegen die Migranten versuchen, wenigstens ihre Kinder nach England einzuschmuggeln. Wegen der drakonischen Sparpolitik der britischen Regierung im sozialen Bereich herrscht bei den Sozialämtern in Kent ein Defizit von sieben Millionen Euro, weil sie noch zusätzlich für 600 elternlose Kinder sorgen müssen, die in den vergangenen drei Monaten bei ihnen auftauchten.
Französische Polizisten gingen in der Vergangenheit meist behutsam mit den Migranten um. „Wir können Leute, die vor dem Ertrinken im Mittelmeer gerettet wurden, hier nicht zusammenschlagen“, sagte ein Gendarm. Doch seit dem Massenansturm in den letzten Tagen werden nun doch Schlagstöcke und Tränengas eingesetzt. „Letztlich können wir nur ein politisches Problem verlagern“, bemerkte ein Kollege von der Gendarmerie nationale, der zusätzlich zum Schutz der britischen Grenze auf französischem Gebiet abkommandiert wurde. „Heute ist es Calais, morgen Dieppe und übermorgen vielleicht die Bretagne.“