zum Hauptinhalt
Der griechische Ministerpräsident Alexis Tsipras (links) und sein türkischer Amtskollege Ahmet Davutoglu im vergangenen November in Ankara.
© Adem Altan/AFP

Rivalität zwischen Athen und Ankara: Alte Feindschaft vereitelt Lösung der Flüchtlingskrise

Griechenland und die Türkei wollen nicht gemeinsam gegen Schlepper vorgehen. Sie stehen beide unter dem Druck der Nationalisten.

Die Türkei und Griechenland spielen eine entscheidende Rolle bei der Lösung der Flüchtlingskrise. So lange Ankara Schlepper gewähren lässt und Athen Migranten in der Regel Richtung Mitteleuropa durchwinkt, dürfte es auch in Deutschland bei hohen Flüchtlingszahlen bleiben. Erschwerend kommt bei der Lösungssuche in der östlichen Mittelmeerregion hinzu, dass das Verhältnis zwischen den beiden Nato-Partnern Griechenland und Türkei von großer Rivalität geprägt ist.

Was erwarten die EU-Partner in der Flüchtlingskrise von Athen?

Die EU-Partner erwarten nicht nur, dass Hellas in den nächsten Wochen tatsächlich die längst zugesagten fünf Registrierungszentren („Hotspots“) auf griechischen Ägäis-Inseln einrichtet. Zudem haben sie Athen dazu aufgefordert, mehr zum Schutz der EU-Außengrenzen zu tun. Falls Athen dabei demnächst keine Fortschritte macht, steht die Drohung der EU-Partner im Raum, durch verstärkte Grenzkontrollen in Mitteleuropa – etwa an der slowenisch-kroatischen Grenze – einen Rückstau der Flüchtlinge weiter im Süden der Balkanroute zu verursachen.
Griechenland müsste sich in diesem Fall um noch mehr Migranten kümmern als gegenwärtig. Auf der Insel Lesbos kommen derzeit täglich bis zu 2000 Flüchtlinge an. Die Versorgung der Migranten auf den ägäischen Inseln wäre wohl ohne den Einsatz zahlreicher freiwilliger Helfer kaum zu schaffen. Denn nach Angaben der Menschenrechtsorganisation „Human Rights Watch“ ist die griechische Regierung nicht in der Lage, die tausenden Migranten auf den Inseln, in der Hauptstadt Athen und im Norden des Landes an der Grenze zu Mazedonien ausreichend zu versorgen. Im griechischen Idomeni an der Grenze zu Mazedonien hoffen die Migranten auf eine Weiterreise. Aber inzwischen gelingt dies nicht mehr allen Flüchtlingen. Denn die mazedonischen Behörden lassen mittlerweile nur noch Schutzsuchende aus Syrien, Afghanistan und dem Irak durch.
Am Wochenende konkretisierte Kanzleramtschef Peter Altmaier in der „Bild am Sonntag“ derweil die Berliner Erwartungen sowohl an Griechenland als auch an die Türkei beim Vorgehen gegen die Menschenhändler in der östlichen Mittelmeerregion: Berlin bestehe „auf einer effektiven Bekämpfung der Schlepper“ in Griechenland und in der Türkei, sagte Altmaier.
Allerdings zeigt der Tod von mindestens 39 Menschen bei der Überfahrt vom türkischen Festland zur griechischen Insel Lesbos am Wochenende, dass die bisherigen Maßnahmen Ankaras und der EU in der Flüchtlingspolitik versagen. Vom Ziel, die lebensgefährliche und illegale Migration in legale Bahnen zu lenken, ist nichts zu sehen. Einer der Gründe dafür ist die mangelnde Zusammenarbeit zwischen den Nachbarn Griechenland und Türkei.

Arbeiten Athen und Ankara bei der Schlepper-Bekämpfung in der Praxis zusammen?

Nein. Zwar fordert die Europäische Union eine Zusammenarbeit der griechischen und der türkischen Küstenwache. Doch davon ist bisher nichts zu sehen. Angesichts der Unklarheiten bei der Grenzziehung zwischen der Türkei und Griechenland in der Ägäis würde eine solche Kooperation beiden Seiten viel abverlangen. Die genaue Grenzziehung in der Ägäis war nach dem Ersten Weltkrieg offen geblieben. Bis heute sind sich die beiden Länder nicht einig darüber, wo genau die Grenze in dem Gebiet verläuft, in dem das türkische Festland und griechische Inseln häufig nur wenige Kilometer voneinander entfernt liegen. Vor diesem Hintergrund kommt es weder für Ankara noch für Athen in Frage, dass Küstenwachschiffe beider Länder bei Einsätzen zur Unterbindung der illegalen Flüchtlingstransporte das Hoheitsgebiet des jeweils anderen Staates nutzen. Beide Regierungen würden sich bei einer Zustimmung zur grenzüberschreitenden Kooperation die Kritik von Nationalisten im jeweils eigenen Land zuziehen. Wie tief die Rivalität zwischen beiden Ländern sitzt, wurde jüngst deutlich, als der griechische Präsident Prokopis Pavlopoulos von Anzeichen einer Zusammenarbeit zwischen türkischen Hafenbehörden und Menschenschmugglern sprach. Im Gegenzug verbreiteten türkische Regierungsvertreter prompt ein Video, auf dem angeblich zu sehen war, wie die Besatzung eines griechischen Küstenwachschiffs ein Boot voller Flüchtlinge versenkt. An den Realitäten in der Ägäis ändert das nichts. Nach Angaben der türkischen Regierung werden dank verbesserter Kontrollen entlang der Ägäis-Küste inzwischen rund 500 Flüchtlinge jeden Tag an der Überfahrt nach Griechenland gehindert. Laut einer Bilanz der türkischen Küstenwache wurden im vergangenen Jahr rund 90.000 Menschen auf dem Weg nach Griechenland aufgehalten – doch in Griechenland kamen im selben Zeitraum mehr als 800.000 Flüchtlinge an. Sobald der Winter vorbei ist, dürften die derzeit relativ niedrigen Flüchtlingszahlen wieder ansteigen.

Worauf beruht die türkisch-griechische Rivalität?

Das Misstrauen zwischen beiden Ländern sitzt tief. Die Türken haben es den Griechen bis heute nicht verziehen, dass diese nach dem Zusammenbruch des Osmanenreiches im Ersten Weltkrieg versuchten, weite Teile Westanatoliens einzunehmen. Damals stieß die griechische Armee tief in das Gebiet der heutigen Türkei vor und stand zeitweise 50 Kilometer vor Ankara. Unter Führung des späteren Republik-Gründers Mustafa Kemal Atatürk drängten die Türken die Angreifer im Jahr 1922 zurück. Begleitet wurde der Krieg von Massakern beider Seiten an Zivilisten. Ein Jahr später wurde im so genannten Lausanner Vertrag ein Bevölkerungsaustausch vereinbart, in dessen Rahmen mehr als eine Million Griechen aus der heutigen Türkei nach Griechenland geschickt wurden und etwa eine halbe Million Muslime aus Griechenland in die Türkei kamen. Der Vertrag wurde gleichzeitig zur Geburtsurkunde der neuen türkischen Republik. Die griechische Minderheit in der Türkei litt in den folgenden Jahrzehnten immer wieder unter Pogromen und Vertreibungsschüben, die teilweise vom Konflikt auf der Mittelmeerinsel Zypern angeheizt wurden. Zypern ist in einen türkischen Norden und in einen griechischen Süden geteilt. In der Metropole Istanbul, die noch zur Anfangszeit der Republik stark griechisch geprägt war, leben heute nur noch rund 3000 Griechen.

Hat sich an der Rivalität beider Länder in den letzten Jahrzehnten etwas geändert?

Ja, in begrenztem Maße. Die spontane Hilfsbereitschaft vieler Griechen nach dem schweren Erdbeben im Nordwesten der Türkei im August 1999 wurde zum Wendepunkt in den Beziehungen. Politiker beider Länder begannen damit, Gemeinsamkeiten zu sondieren und vereinbarten Gespräche über ungelöste Probleme. Diese Verhandlungen dauern an, haben bisher aber keine greifbaren Ergebnisse gebracht. Gegenwärtig sind Athen und Ankara bemüht, in der Flüchtlingskrise alle diplomatischen Kanäle offen zu halten. Mit dem verstärkten diplomatischen Austausch zwischen dem griechischen Außenminister Nikos Kotzias und seinem türkischen Amtskollegen Mevlut Cavusoglu hängt es auch zusammen, dass sich Athen zur Jahreswende mit der Reaktion auf die Übungen der türkischen Luftwaffe über griechischem Gebiet in der Ägäis zurückhielt. Normalerweise werfen sich beide Länder gegenseitig mit scharfen Tönen vor, den Luftraum des jeweils eigenen Staates zu verletzen. Die beiden Nato-Partner waren 1996 wegen eines Streits um eine unbewohnte Felseninsel in der Ägäis beinahe in einen Krieg geschlittert. Die gefährliche Situation hielt den griechischen Ministerpräsidenten Alexis Tsipras auch jüngst im November nicht davon ab, seinen türkischen Amtskollegen Ahmet Davutoglu mit einem Tweet zu provozieren. Nach dem Abschuss eines russischen Kampfjets durch türkische Piloten twitterte Tsipras an Davutoglu: „Glücklicherweise sind unsere Piloten nicht so nervös wie eure gegenüber den Russen.“ Laut der Kurznachricht des griechischen Ministerpräsidenten sei es „unerhört und unglaublich“, was in der Ägäis passiere. Zwar verfüge man, so Tsipras, über die modernsten Waffensysteme, aber dennoch könne man am Boden keine Schleuser fassen, die Menschen im Mittelmeer ertrinken ließen. Derartige Sticheleien ändern aber nichts daran, dass Griechenland genauso wie die übrigen EU-Partner auf das Schlüsselland Türkei in der Flüchtlingskrise setzt. Dies wurde im vergangenen November bei einem Besuch von Tsipras in der Türkei deutlich. Tsipras warb damals für die direkte Umsiedlung syrischer Flüchtlinge von der Türkei in die EU. Im Gegenzug soll sich Ankara dieser Lösung zufolge zu einer stärkeren Überwachung der Seegrenzen verpflichten. Parallel zu den diplomatischen Bemühungen in Richtung Ankara arbeitet Tsipras daran, die Verbindungen zu Zypern und Israel auszubauen und damit den diplomatischen Einfluss des eigenen Landes in der Region zu vergrößern. In der vergangenen Woche kam er mit dem zyprischen Präsidenten Nikos Anastasiades und seinem israelischen Amtskollegen Benjamin Netanjahu zu einem Dreier-Gipfel in der zyprischen Hauptstadt Nikosia zusammen.

Wie könnte eine Lösung im türkisch-griechischen Konflikt aussehen?

Stärkerer Druck aus Brüssel und eine größere Rolle für die europäische Grenzschutzagentur Frontex könnte möglicherweise dabei helfen, die Widerstände gegen eine Zusammenarbeit in beiden Ländern zu überwinden. Notwendig sind aber nicht nur gemeinsame Patrouillen und Einsätze in der Ägäis. Zur Lösung der Flüchtlingskrise sollten beide Länder auch das bereits zwischen ihnen bestehende Rückübernahmeabkommen voll umsetzen, urteilt die Denkfabrik European Stability Initiative (ESI).
Das Abkommen, das bereits seit Jahren in Kraft ist, verpflichtet die Türkei, alle Flüchtlinge zurückzunehmen, die über ihr Territorium nach Griechenland gelangen. Das ist zumindest die Theorie. In der Praxis zeigt sich, dass die Rückführung nur schleppend läuft. Nach den Angaben der Denkfabrik ESI verlangte Athen zwischen Januar und September 2015 von Ankara die Rückübernahme von rund 8700 Menschen. Die Türkei akzeptierte dies in knapp 2400 Fällen. Tatsächlich zurückgeschickt wurden acht Flüchtlinge. Bis alle Details zwischen Athen und Ankara geklärt seien, hätten die meisten Flüchtlinge längst die Weiterreise in andere EU-Staaten angetreten, erklärte ESI dazu kürzlich.

Zur Startseite