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Junge Männer am Bahnhof, hier eine Gruppe künftiger italienischer VW-Arbeiter auf dem Hauptbahnhof in Hannover im Januar 1962.
© Hans Heckmann/dpa

Von München in den 1960ern bis Köln heute: Warum wir bei Migration so oft Bahnhof verstehen

Von "Itaker" bis "Nafri": Die Angst vor dunkelhaarigen jungen Männern am Bahnhof hat in Deutschland eine Geschichte.

Gleis 11 des Münchner Hauptbahnhofs ist für viele Menschen der sogenannten Gastarbeiter-Generation ein mythischer Ort, im Guten wie im Bösen. Hier begann für viele Deutschland. Münchens Hauptbahnhof war bis zum Anwerbestopp 1973 das Nadelöhr für ungefähr zwei Millionen Arbeitsmigranten, die über die Anwerbeverträge mit Ländern in Südeuropa, Nordafrika und mit der Türkei kamen. Heute ist  Gleis 11 ein Stopp auf Städteführungen, und zum 50. Geburtstag des ersten Anwerbevertrags, den 1955 die Regierung von Konrad Adenauer mit Italien schloss, schwärmte die Website der Stadt München vom „italophilen Habitus“ der Stadt, den „Trattorien, Bars und Enoteche“ und der Italianisierung Deutschlands, die „ zur Eingemeindung der Migranten“ beigetragen habe.

Einst "Spaghettis", später Vermittler gehobener Lebensart

Von Italophilie war in den 1960er Jahren allerdings auch in der selbsternannten „nördlichsten Stadt Italiens“ nicht viel zu merken. In Leserbriefen an die Münchner Zeitungen beklagten sich Alteingesessene bitter über das Chaos, den Lärm und die mutmaßlichen Untaten – sexuelle ausdrücklich eingeschlossen – der vielen jungen Südländer auf ihrem Bahnhof, die Presse schrieb von „Balkanisierung“ des Viertels. Was Wunder: Die jungen Männer – Anfang der 60er stammten fast 40 Prozent der ausländischen Beschäftigten in und um München aus Italien und nur ein Fünftel von ihnen waren Frauen – landeten nicht nur auf Gleis 11, der Bahnhof wurde ihnen auch ein Aufenthaltsort auf Dauer. Nach Feierabend, aber vor allem an den freien Wochenenden trafen sich zeitweise tausende Italiener am Bahnhof.

„Tausende dunkelhaarige junge Männer am Bahnhof“ – uns Heutigen steht sofort der Bahnhof einer anderen deutschen Großstadt vor Augen. Die Bilder gleichen sich verblüffend ebenso wie die Reaktionen einst und jetzt. „Niemand wusste anfangs, warum ausgerechnet hier“, schrieb die Münchner „tz“ über das Phänomen der Massen am Bahnhof. 50 bis 60 Jahre später sind im kollektiven Bildervorrat aus den „Itakern“, „Zitronenschüttlern“ und „Spaghettis“ von damals gern gesehene Kulturmittler für gehobene mediterrane Lebensart geworden.

Man weiß, leider, nicht mehr viel über die Vorurteile von einst, dafür aber zum Glück inzwischen mehr über die Motive fürs angeblich kriminelle, jedenfalls verdächtige Rumlungern am Bahnhof: Dort konnten sie einerseits die Enge in den unwirtlichen Sammelunterkünften hinter sich lassen – nach offiziellen Schätzungen lebten damals zwei Drittel der ausländischen Beschäftigten so. Man wusste, dass man dort Landsleute traf, ohne sich verabreden zu müssen.

Der Bahnhof war auch der nächste Ort Richtung Heimat, eine Kulisse fürs Heimweh. Und Gewohnheiten von früher dürften ebenfalls eine große Rolle gespielt haben, wie der Ausländerreferent der Fordwerke, Giacomo Maturi, 1964 im „Spiegel“ den verärgerten Deutschen verklarte: der Bahnhofsvorplatz ersetzte ihnen die Piazza als Ort ungezwungener, wenn nicht der Freizeitgestaltung schlechthin, wo auch Bars und Kneipen Teil der Straße sind und „nicht wie deutsche Wirtschaften, wo man durch zwei Türen und einen Vorhang hineingeht, wo die Fenster auch Vorhänge haben und wo man sich eingeschlossen fühlt wie im Kiel eines Schiffs“.

Das Vorurteil ist eine Wanderdüne

Die Zeiten ändern sich, wenigstens technisch: Bahnhöfe sind im Zeitalter des Billigflugs keine Sehnsuchtsorte mehr. Aber Massenunterkünfte gibt es natürlich weiterhin und auf die vielen Männer unter den Flüchtlingen oder Arbeitsmigranten blickt Mehrheitsdeutschland nach wie vor mit Misstrauen. Auch wenn es der Wirklichkeit oft nicht standhält: Auch in Köln ist jetzt herausgekommen, dass die Kontrollen gegen „Nafris“ an Silvester nicht konkreter Aggression galten, sondern dass nach Haar- und Hautfarbe gefilzt wurde. Das Vorurteil ist eben eine Wanderdüne. Sie bewegt sich mal auf die „Itaker“ zu, mal auf die "Kümmeltürken", mal auf "Nafris", Männer aus dem Maghreb.

Migration oder allgemeiner das Fremde ist womöglich das Phänomen, wo der erste, gerade der unmittelbare Blick am meisten trügt. „Aber ich hab’s doch mit eigenen Augen gesehen“ – fragt sich nur, was ich sehe: Dem Mann am Fließband bei Ford, der in der Zigarettenpause Deutsch radebrechte, war kaum anzusehen, dass er in der Türkei Lehrer war. Weshalb sich der zweite und dritte Blick empfiehlt. Amerikas Ex-Präsident Barack Obama hat in seiner großartigen Abschiedsrede gerade gemahnt, sich in die Haut der anderen einzufühlen, sonst werde man sie oder ihn nie verstehen. Er meinte, auch, die Anhänger von Donald Trump. Recht hat er. Es hat halt jeder seine Kümmeltürken.

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