Kultur: Rocco Tedesco
50 Jahre Anwerbeabkommen: Wenn er genug Geld verdient hätte, wollte er zurückkehren. Doch er blieb bis heute. Die Geschichte eines deutschen Italieners.
Beim Militär hatte er wenigstens die Unterhose anbehalten dürfen, damals bei der Musterung. Doch die Deutschen, sagt Rocco Artale, die wollten ihn nackt. „Sie tasteten uns am ganzen Körper ab, und sahen nach, ob wir Schwielen an den Händen hatten, um herauszufinden, ob wir für körperliche Arbeit taugen.“ Das sei natürlich demütigend gewesen, doch nachdem er, trotz fehlender Schwielen, für „idoneo“ befunden wurde, für „tauglich für die Anwerbung und Vermittlung nach der Bundesrepublik Deutschland“, war er trotzdem froh. „Denn was wäre gewesen, wenn sie mich zurückgeschickt hätten? Ich hätte kein Mädchen mehr gefunden, und alle hätten gesagt: Der ist nicht tauglich für Arbeit in Deutschland.“ Artale war damals 21. Heute ist er 65 und sitzt im Italienischen Zentrum der Stadt Wolfsburg. Im Restaurant des Centro Italiano sieht es aus wie in einer bayerischen Stube. Die Wände im Restaurant sind mit Fichtenholz verkleidet, die Tische massiv. Die Männer am Tresen in ihren dunklen Wetterjacken sind von deutschen Rentnern nur dadurch zu unterscheiden, dass sie flüssig Italienisch sprechen. Auch für sie hat vor Jahrzehnten ein deutsches Leben begonnen. Für Artale begann es 1961, als er nach dem „Tauglich“ der deutschen Anwerbekommmission in Verona einen Vertrag als Saisonarbeiter in einer Zuckerfabrik bei Hannover bekam.
Die Italiener waren die ersten. Griechen und Spanier kamen ein paar Jahre später, dann Türken, Portugiesen, Tunesier, Jugoslawen und nach der Wende, auf eigene Faust, Polen, Ukrainer, Russen. Aber mit den Männern und – wenigen – Frauen, den ersten „Gastarbeitern“, die vor 50 Jahren mit deutschen Arbeitsverträgen im Gepäck Italien Richtung Norden verließen, fing die lange und folgenreiche Geschichte an, die die offizielle Bundesrepublik bis vor wenigen Jahren lieber verleugnet hat. Dabei stecken Millionen einzelner Geschichten darin. Und vor allem ist sie mit dem Lieblingsgründermythos dieses Landes, dem Wirtschaftswunder, untrennbar verbunden: die Geschichte Deutschlands als Einwanderungsland.
Der Vertrag, der am Anfang steht und den der italienische Außenminister Gaetano Martino und Adenauers Arbeitsminister Anton Storch am 20. Dezember 1955 in Rom unterzeichneten, liest sich wie ein Abkommen über einen beliebigen Warenaustausch. Da ist die Rede vom Bedarf an Arbeitskräften, von „Deckung“ dieses Bedarfs durch die italienische Regierung, von den Begleitdokumenten bis hin zur Qualität der Ware: In der Anlage 2 zum Vertrag wird gefordert, dass die „Kaufähigkeit“ der Kandidaten zu prüfen sei und die Zahl ihrer schadhaften Zähne.
Rocco Artale wusste damals nicht einmal, wo Hannover lag, wo er in der Nähe arbeiten sollte. „Keiner klärte uns ein bisschen über Deutschland auf, keiner begleitete uns. Sie wollten einfach nur Arbeitskräfte.“
Ludwig Erhard, der damalige Wirtschaftsminister zumindest wollte das. Die Gewerkschaften, aber auch Arbeitsminister Anton Storch und große Teile der CDU waren der Meinung, dass man erst einmal die Million deutscher Arbeitsloser unterbringen müsse, bevor an Ausländer zu denken sei. Erhard hielt die Arbeitslosigkeit für unerheblich, zumal da in den Industriegebieten Baden-Württembergs und Nordrhein-Westfalens praktisch schon Vollbeschäftigung herrschte. Außerdem fürchteten die Unternehmerverbände, dass die Löhne für das knappe Gut Arbeitskraft dramatisch steigen würden, wenn das Angebot nicht größer würde. Und während der Vater des Wirtschaftswunders sich um starke Arme für Deutschlands wachsende Wirtschaft sorgte, wollte Italiens Regierung einen großen Teil jener jungen Leute loswerden, die vor allem im armen und unterentwickelten Mezzogiorno keine Arbeit fanden. Etliche Abkommen mit anderen europäischen Ländern hatte Rom bereits geschlossen. Auch Rocco Artale stammt aus dem Mezzogiorno, aus der Nähe von Pescara in den Abruzzen. Dass er es dort nicht weit bringen würde, war ihm früh klar. Der Vater, ein Winzer, hatte den Weinbau aufgegeben; das wenige Pachtland ernährte die Familie nicht. Rocco geht mit 17 zum Militär nach Mailand, lässt sich dort zum Datenverarbeiter ausbilden. Aber dann verlässt er die Kaserne, zum Entsetzen seines Vaters: „Du wirfst dein Leben weg, hat er gesagt. Wie kannst du eine feste Stelle aufgeben? Aber ich habe die Uniform nie gemocht.“ Als sie ihm auf dem Arbeitsamt sagen, er könne doch ins Ausland gehen, und ihm ein paar Länder vorschlagen, entscheidet er sich für Deutschland. „Ich weiß selbst nicht warum“, sagt er heute. „Ich wollte nicht hier bleiben.“ Er wollte nach Italien zurückkehren, sobald er genug Geld hätte. Seine Mutter hat beim Abschied trotzdem geweint. „Wir sind die Sklaven unseres Elends“, habe er damals gedacht.
Die Misere auf dem Land ist für viele von Artales Landsleuten nicht der einzige Grund, den Zug nach Norden zu nehmen. Die Historikerin Yvonne Rieker, die für ihre Geschichte der italienischen Einwanderung Italiener im Ruhrgebiet befragte, bekam auch von der Hoffnung auf ein freieres Leben in Deutschland zu hören. Viele junge Männer träumten von einem neuen Leben ohne den allgewaltigen Vater, die Macht des Padrone und die öffentliche Meinung im Dorf. Und sie rebellieren, wenn sie hier Verhältnisse finden, die an die Vergangenheit in Italien erinnern. Einmal, erzählt einer, habe ihn „ein Doktor Soundso“ zwingen wollen, sich auch noch nach einem Bonbonpapier auf dem Hof zu bücken, den er gerade sauber gefegt hatte. Als er sich weigert und ihm sein Chef deswegen Vorwürfe macht, sagt er nur: „Was ist denn Doktor? Ich bin doch kein Hund.“
Rocco Artale fängt am 1. März 1962 bei VW an. Der deutsch-italienische Anwerbevertrag ist da schon sechs Jahre alt, aber im Wolfsburger Werk ist der 21-Jährige einer der ersten Italiener. Der Generaldirektor von VW, Heinrich Nordhoff, ein praktizierender Katholik und mit Papst Pius XII. persönlich bekannt, bekommt bei der Anwerbung italienischer Arbeiter massive Hilfe vom Vatikan. „Sie haben dabei mitgeholfen, dass Tausende Famlien auseinandergerissen wurden und die Männer ihre Kinder und Frauen verlassen haben“, sagt Rocco Artale bitter. „Das nehme ich der Kirche heute noch übel.“
Innerhalb eines Jahres wächst die italienische Belegschaft bei VW auf 3000 Köpfe, so stark wie in keinem anderen Unternehmen. Die jungen Männer hausen in den „Unterkünften Berliner Brücke“, etwa 50 Baracken mit Etagenbetten in den Viererzimmern, in Fußnähe zur Fabrik. Rechts vom Korridor jeder Baracke die Tagschicht, links die Nachtschicht, die Gemeinschaftsküche am einen Ende, die Toiletten am anderen, geduscht wurde im Werk. Beim Werkschutz am Eingang sind die Ausweise zu zeigen, um das Gelände läuft Stacheldraht. Wenn sie nachfragten, warum man sie einsperrte, hieß es, der Zaun solle sie vor fliegenden Händlern schützen, die sie übers Ohr hauen könnten, und vor Prostituierten.
Die Unwirtlichkeit dieser Unterkünfte hatte vor allem für das Unternehmen Vorteile. „Das permanente Provisorium“, der häufige Wechsel der Arbeiter, von denen zwischen 1962 und 1975 im Schnitt 57,2 Prozent Wolfsburg wieder verließen, schreibt Anne von Oswald, die die Geschichte der Italiener bei VW untersucht hat, habe es der Werksleitung immer wieder möglich gemacht, die Belegschaft bei Absatzkrisen rasch und geräuschlos zu reduzieren. Weil die Italiener gingen, blieb den deutschen Kollegen die Arbeitslosigkeit erspart. Vom ungemütlichen Junggesellenleben in den Baracken fiel der Abschied leicht. Es gab nichts auf dem Gelände, erinnert sich Rocco Artale, keinen Laden, keine Zerstreuung, nur einen Gemeinschaftsraum, wo sie Karten spielten. Als im November 1962 einer von ihnen schwer krank wird und der Krankenwagen so spät eintrifft, dass er nur knapp mit dem Leben davonkommt, revoltieren die Bewohner des „größten italienischen Dorfs nördlich der Alpen“ – und des sicher einzigen ohne eine einzige Frau. Die Italiener waren da schon eine Macht im Werk. Wenn sie fehlten, lag die Schicht lahm. Den Betriebsrat haben sie nicht hinter sich. Dessen Vorsitzender beschuldigt offen Italiens kommunistische Partei als Drahtzieherin des spontanen Streiks und 70 Arbeitern, die als Rädelsführer gelten, wird gekündigt.
Wer die Geschichten der ersten Ausgewanderten hört, kann kaum glauben, dass die alte Italiensehnsucht der Deutschen gerade damals eine Renaissance erlebte. Ihr neuer Wohlstand machte Reisen in den Süden möglich und daheim besang Rudi Schuricke den Moment, „wenn bei Capri die rote Sonne im Meer versinkt“. Und während immer häufiger Pasta auf den deutschen Mittagstisch kam, wurden Deutschlands Italiener als „Itaker“ und „Spaghettifresser“ beschimpft. Beim Einkaufen, sagt Rocco Artale,wurden sie selbstverständlich geduzt – „Was willst du? Wer bist du?“ – und man hielt sie sich mit Schildern „Ausländer nicht erwünscht“ vom Leibe. Fremd und verachtet, das waren nicht erst die Türken. Das Deutsche war das Maß aller Dinge und wer die Dinge anders sah, bekam das zu spüren.
Marisa Fenoglio, die mit ihrem Mann, einem Manager, 1957 frisch verheiratet aus dem Piemont in die hessische Provinz kam, erzählt in ihren auf Italienisch erschienenen Erinnerungen „Vivere altrove“ (Woanders leben), wie die Lehrerin ihrer Kinder sie empört darüber belehrte, dass gute Deutsche Ehrfurcht vor dem Wald hätten. Und sie berichtet von einem Geschäftsessen Jahrzehnte später, bei dem ihr Nachbar ihr galante Komplimente macht. Doch als sie wagt, die Grünen zu loben als die wahren Erben der urdeutschen Liebe zur Natur, da zischt der charmante Tischherr, ein Bankier, die Italienerin nieder: Die Grünen seien gefährlich und was sie da sage, unerhört. „Wir in Deutschland haben stabile Regierungen, Gnädigste. Ein Glück, dass Sie hier nicht wählen dürfen.“ Das Vorurteil von den unzuverlässigen, chaotischen Italienern lebt, nach 30 Jahren deutsch-italienischen Zusammenlebens. Bis zu diesem Abend, schreibt Marisa Fenoglio, glaubte sie, sie dürfe in diesem Lande einfach sie selbst sein. „Nun hatte der Herr Bankier mich dorthin zurückgestoßen, woraus kein Ausländer hoffen sollte zu entfliehen: ins Ghetto der Fremde.“
Der Fremde kehrten viele Auswanderer den Rücken, in manchen Jahren, auch während des Wirtschaftswunders, gab es mehr Rückkehrer als Neuankömmlinge. Dennoch bilden die Italiener nach den Türken immer noch die zweitgrößte ausländische Gemeinde. Mehr als eine halbe Million Italiener leben in Deutschland; vor 50 Jahren waren es nur 26 000. Warum sie blieben? Vielleicht weil das Leben so unwiderstehlich ist wie die Schwerkraft. Rocco Artale heiratet 1966, eine Wolfsburgerin, sie bekommen zwei Söhne. Mit der Ehe, sagt Artale, war für ihn klar, dass aus dem Provisorium Deutschland etwas Endgültiges werden würde. Auf die Frage nach dem „Warum“ reagiert er verblüfft. Man ist schließlich da, wo die Familie ist. Auch für seine Frau sei Italien kein Thema gewesen.
Er hat sich in dieses Deutschland eingefügt, hat die Sprache gelernt, die Sitten. Jahrelang ist er nach der Schicht dreimal in der Woche mit drei Kollegen nach Braunschweig gefahren, um bei Berlitz Deutsch zu pauken. Er hat sich in der Gewerkschaft engagiert und, um auch dort weiterzukommen, Arbeits- und Sozialrecht, Gesellschaftspolitik gebüffelt. „Wir waren praktisch nie zu Hause“, sagt er. Von 1974 bis zur Rente 2000 war Artale hauptamtlicher Gewerkschaftssekretär der IG Metall, seit Mitte der 90er Jahre auch für die SPD im Stadtrat. Der Aufstieg hatte seinen Preis. „Wir mussten immer doppelt so gut sein, in der Gewerkschaft genauso wie in der Partei.“
„Weil wir leise sind und, anders als die Türken, nicht ins Auge fallen, hält man uns für integriert“, schreibt Marisa Fenoglio. „Irrtümlich betrachten sie uns als Nachbarn.“ Rocco Artale hat in Wolfsburg mehr als zwei Drittel seines Lebens verbracht, er hat eine Deutsche geheiratet, seine Söhne sprechen beide Sprachen, und wenn er von der Stadt spricht, sagt er immer „wir“. Seine Visitenkarte ist eine Einwandererintegrationserfolgsgeschichte in Stichworten: Ratsherr, Vorsitzender im Ausschuss für Ausländerangelegenheiten und Mitglied in drei anderen, dazu der „Cavaliere“, der Verdienstorden der italienischen Republik. Trotzdem wollte er keinen deutschen Pass. Wieder Erstaunen: „Die Staatsbürgerschaft? Nein.“
Es bleibt da ein Rest, bis heute, auch im offiziellen Verhältnis der beiden Länder. Wenn der Vertrag, mit dem alles begann, am kommenden Dienstag 50 Jahre alt wird, feiert man schlicht und im kleinen Kreis. Die italienischen Kulturinstitute und die Goethe-Institute in Italien haben im ganzen Jubiläumsjahr zwar erinnert, Dörfer und Städte in beiden Ländern feierten mit ihren Auswanderern und in Köln gibt es eine große Ausstellung zum Thema. Aber eine Staatsaktion wie vor drei Jahren der 40. Geburtstag des deutsch-französischen Freundschaftsvertrags wird dieses runde Datum nicht.
Es ist, als wäre er ihnen allen immer noch ein bisschen peinlich, denen, die die Hilfe von Millionen von Ausländern brauchten, um es zu ihrem erstaunlichen Wohlstand zu bringen, und denen, die ihre jungen Bürger aufforderten, Italien zu verlassen. Die eigene Regierung hatte sie damals freundlich hinausgeworfen: „Lernt eine Fremdsprache und geht“, hatte der erste Ministerpräsident Alcide De Gasperi gesagt.
Vielleicht ist es auch einfach schwer, Festreden zu schreiben für das Zwiespältige und Helldunkle, das die Emigration hervorbringt, für die Mischung aus erbrachten Opfern und erlangten Möglichkeiten. Auch Rocco Artale ist so eine Doppelexistenz. Man fährt in den Süden, schreibt Fenoglio, „und entdeckt dort mehr Deutschland an sich, als man zugeben will“. Die Emigranten gehören beiden Ländern. Rocco Artale nennt sich einen „Italiener, der in Deutschland lebt“. Ein Pass, sagt er, ist nicht nur ein Pass, sondern auch Identität. Die italienische Hälfte seiner Identität aufgeben? Kommt nicht in Frage. „Ich habe die Emigration studiert“, sagt er. Ein Diplom braucht er nach all den Jahren dafür wirklich nicht mehr.
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