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Mutter, Kinder Vater - Scherenschnitt einer Familie.
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Demographischer Wandel: Warum Deutschland das Elternwahlrecht einführen muss

Angesichts einer alternden Gesellschaft braucht unsere Demokratie ein höchstpersönliches Elternwahlrecht zugunsten noch nicht wahlberechtigter Kinder. Ein Gastkommentar.

Ihren Aufschwung nahm moderne Demokratie, als die Zahl der im Berufsleben stehenden Aktivbürger die der zu versorgenden Älteren weit überstieg. Unter solchen Umständen ist das Demokratieprinzip höchst plausibel: Jene Mehrheit, die das Gemeinwesen finanziert, bestimmt auch dessen Politik und regelt unvermeidliche Verteilungskonflikte. Dazu braucht sie heute parlamentarische Macht. "No taxation without representation" hieß denn auch der Schlachtruf, mit dem amerikanische Auflehnung gegen britische Kolonialherrschaft begann.

Um die Jahrhundertmitte werden die zu versorgenden Rentner in Deutschland zwar nicht die Mehrheit des Staatsvolks bilden, doch aufgrund ihrer – wohl weiterhin – höheren Wahlbeteiligung ein Übergewicht bei politischen Entscheidungen haben. Jetzt schon zeigt sich das in vorauseilender Fügsamkeit der politischen Klasse bei den zögerlichen Reformen unseres Rentensystems. "No taxation without fair representation" kann deshalb eines Tages zum Schlachtruf von Steuerzahlern werden. Wie plausibel wird nämlich das Demokratieprinzip unter Umständen sein, in denen eine Mehrheit von Versorgungsempfängern darüber entscheidet, wieviel die Berufstätigen von ihrem Einkommen behalten dürfen?

Die Wucht gerade dieser Herausforderung für Demokratie erkennt, wer an ihre antiken Wurzeln denkt. Die Volksversammlung war nämlich das ohne Waffen versammelte Heer, nämlich jene – überwiegend junge – männliche Bürgerschaft, die mit Leib und Leben für die Folgen politischer Entscheidungen haftete und genau deshalb bestimmenden Einfluss auf sie verlangte. Letztlich aus dem gleichen Grund ging die Demokratisierung der europäischen Monarchien nicht nur mit den Teilhabewünschen des steuerzahlenden Bürgertums einher, sondern gerade auch mit dem – der Französischen Revolution zu verdankenden – Aufkommen von Wehrpflichtarmeen. Noch 1972 wurde die Senkung des bundesdeutschen Wahlalters auf 18 Jahre unter anderem damit begründet, Wehrpflicht und Wahlrecht gehörten zusammen. Stets war es offenbar ein Leitgedanke von Demokratie, die abverlangte Leistung für das Gemeinwesen müsse mit fairer Einflussnahme auf dessen Politik verbunden sein.

Unser Demokratieprinzip verliert seine Überzeugungskraft

Die Verbindung von Wehrpflicht und Demokratie haben wir längst aufgegeben. Bald schwindet auch die Verbindung von Abgabepflicht und Einfluss dank Wahlrecht. Unter solchen Umständen wird zunächst die Plausibilität des Demokratieprinzips abnehmen – und alsbald die Bereitschaft, parlamentarische Mehrheitsentscheidungen zu akzeptieren. Eine tiefgreifende Staatskrise wäre die Folge. Was lässt sich dagegen tun?

Zwar wird sich in einer alternden Gesellschaft auch die Rolle der – oft noch sehr rüstigen – Älteren ändern. Mehr als heute werden sie ehrenamtlich aktiv sein und sich, schon aus Eigeninteresse, für sozialen Zusammenhalt engagieren. Und natürlich gibt es Grund zum Vertrauen in ihre Bereitschaft, beim Wählen auch stark auf die Interessen von Kindern und Enkeln zu achten. Doch dass diese fortan viel öfter fehlen als früher, ist ja gerade die Ursache des aufziehenden Demokratieproblems.

Es lässt sich in ethisch vertretbarer Weise gewiss nicht dadurch lösen, dass man Älteren ihr Wahlrecht nimmt. Könnten wir aber nicht Jüngeren ein größeres politisches Gewicht verschaffen? Das ist ein Motiv für die Absenkung des Wahlalters. Sie führt freilich in eine Sackgasse. Zwar finden sich Gründe für aktives Wahlrecht ab 17, 16, 15 Jahren usw. Doch irgendwann sinkt die Plausibilität der Annahme, auch sehr junge Leute könnten, dank ihres Wahlrechts, zu unserer Demokratie beitragen. Dem Zehnjährigen sollte wohl ein Erwachsener in der Wahlkabine die Hand führen, und beim Kleinkind kann das gar nicht anders sein. Dann aber möchte man doch lieber gleich über ein höchstpersönliches Elternwahlrecht zugunsten noch nicht wahlberechtigter Kinder nachdenken, also darüber, ob nicht Sorgeberechtigte für jedes ihnen (gemeinsam) anvertraute Kind einen weiteren Wahlschein sollten ausfüllen dürfen.

Natürlich gibt es da verfassungsrechtliche Bedenken. Sie reichen vom Grundsatz "eine Person – eine Stimme" bis zum Prinzip, die Wahlstimme müsse höchstpersönlich abgegeben werden. Nun ist aber Verfassungsrecht kein Naturgesetz, kann also – gute Gründe vorausgesetzt – auch geändert werden. Und oft gibt es selbst unter fortgeltendem Verfassungsrecht offene Wege, die nur noch nicht beschritten wurden, weil keiner sie gesucht hat. Aus drei Gründen sollte man das aber tun.

Erstens bestehen Wahlrechtsgrundsätze doch der Demokratie willen. "Eine Person – eine Stimme" sollte sicherstellen, dass niemand von demokratischer Teilhabe ausgeschlossen würde. Das führte zum Ende von Wahlrechtsschranken aufgrund von Einkommen oder Geschlecht. Wäre es wohl sinnvoll, ausgerechnet mit diesem Grundsatz den Ausschluss eines großen Teils des Staatsvolkes zu rechtfertigen, nur eben mit jetzt Verweis aufs Lebensalter?

Das Elternwahlrecht würde dem Bevölkerungsrückgang entgegenwirken

Zweitens ist eine höchstpersönliche Stimmabgabe von Kindern gewiss nicht in jedem Lebensalter sinnvoll. Auch prägt das Eintreten von Eltern oder Sorgeberechtigten ohnehin viele Lebensbereiche von Heranwachsenden bis zur stufenweise erlangten vollen Rechts- und Geschäftsfähigkeit. Also müsste dem höchstpersönlichen Elternhandelns zugunsten ihrer Kinder nur – vernünftig ausgestaltet – ein weiterer Lebensbereich angefügt werden.

Drittens hätte ein höchstpersönliches Elternwahlrecht zugunsten ihrer Kinder sehr rasch höchst wünschenswerte Wirkungen. Parteien müssen nämlich auf Stimmen ausgehen, zunächst um überhaupt ins Parlament zu gelangen, sodann um regieren zu können. Also berücksichtigen sie besonders stark die Interessen jener Bevölkerungsschichten, auf die sie ihrer Wahlchancen willen angewiesen sind.

Professor Werner Patzelt
Professor Werner Patzelt hat den Lehrstuhl für Politische Systeme und Systemvergleich an der Technischen Universität Dresden inne und beschäftigt sich unter anderem mit Parlamentarismus, Parteien, Wahlen, und politischer Kommunikation. Ein besonderer Schwerpunkt seiner Arbeit gilt der Auswirkung demographischer Entwicklungen auf die Demokratie.
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Wer sich nun fragt, warum unser Steuerrecht, warum unser Rentensystem, warum die rechtlichen Regelungen unserer Arbeitswelt es so wenig attraktiv machen, Kinder zu haben, der wird folgende plausible Antwort finden: weil es für Parteien keinen Mehrwert bringt, die Geburt und Erziehung von Kindern zu honorieren! Dieses Kalkül änderte sich aber grundlegend, wenn die Stimmen der nicht wahlberechtigten Kinder auf den politischen Markt kämen. Dann wäre es nämlich hochattraktiv für alle Parteien, möglichst viele Stimmen derer zu gewinnen, die Kinder haben. Erst recht gilt das für die aufziehenden Zeiten großer Wählerfluktuation und eines sich aufsplitternden Parteiensystems. Rasch entstünde Parteienwettbewerb um solche Politik, die auf spürbare Verbesserungen der Arbeits-, Steuer- und Rentenverhältnisse derer ausgeht, die Kinder in die Welt setzen und erziehen. Und es käme zum unausweichlichen Druck darauf, solche Politik auch wirkungsvoll umzusetzen.

Unter so veränderten Umständen werden gewiss binnen weniger Jahre die Geburtenanzahlen wieder so ansteigen, dass nicht nur die natürliche Reproduktion unserer Gesellschaft aufs neue gesichert ist, sondern sich auch jenes Demokratieproblem abgewendet findet, in das unsere überalternde Gesellschaft schlittert. Und es wäre eine Problemlösung ganz gemäß dem Prinzip der Demokratie.

Werner Patzelt nimmt teil am Demokratie-Kongress der Konrad-Adenauer-Stiftung zum Thema Demographie am 21. November in Bonn. Tagesspiegel.de veröffentlicht diesen Beitrag im Rahmen einer Demographie-Diskussion in Kooperation mit der KAS.

Werner Patzelt

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