Wahlrecht in Deutschland: Was die Stimme wert ist
Der Bundestag wird im September nach einem neuen Wahlrecht bestimmt. Experten sehen darin nur eine Übergangslösung. Wie könnte unser künftiges Wahlsystem aussehen?
Das Bundestagswahljahr 2013 ist eröffnet. Und wenn die Bürger im September an die Urne dürfen, wird es auch ein neues Wahlrecht geben – der Bundestag wird es demnächst beschließen. Karlsruhe hatte 2008 das bisherige Wahlrecht verworfen (wegen des Effekts des negativen Stimmgewichts); und auch den dann folgenden Entwurf der schwarz-gelben Koalition akzeptierten die Richter nur zum Teil (und ihnen missfielen nun auch die Überhangmandate). Viel merken werden die Wähler zwar nicht vom neuen Wahlrecht, denn der Wahlzettel wird aussehen wie eh und je. Links das Kreuzchen für den Wahlkreiskandidaten, rechts das Kreuzchen für die Parteiliste. Die Änderungen beziehen sich auf die Zuteilung der Sitze. Im Parlament verständigte man sich nach den Korrekturwünschen aus Karlsruhe schließlich darauf, das negative Stimmgewicht durch die Trennung der Landeslisten der Parteien anzugehen (ein schwarz-gelber Vorschlag), das Problem der Überhangmandate – die entstehen, wenn eine Partei in einem Land mehr Direktmandate gewinnt, als ihr nach dem Parteienproporz eigentlich an Sitzen insgesamt zustünde – durch einen Ausgleich mit Zusatzmandaten zu regeln. Das war ein SPD-Vorschlag. Die Grünen, die ursprünglich ein System ohne Ausgleich wollten, schlossen sich dem Gesetzentwurf an. Die Linken nicht – sie bleiben bei der Forderung, es müsse auch ohne Ausgleich gehen. Wie groß der nächste Bundestag wegen der Ausgleichsmandate sein wird, ist unklar. Realistische Berechnungen liefen auf bis zu 700 Sitze hinaus (statt regulär 598, mit Überhängen derzeit 622). Entscheidend dafür ist im Wesentlichen, wie gut oder schlecht CDU, CSU und SPD abschneiden. Die Faustregel lautet: Schneiden die großen Parteien schlechter ab, steigt tendenziell die Zahl der Überhangmandate. Die Umfragen deuten derzeit aber eher darauf hin, dass es glimpflich abgeht – die Union wird derzeit mit etwa 40 Prozent gehandelt, und auch die SPD hängt nicht mehr unter der 25-Prozent-Marke. Gibt es nur relativ wenige Überhang- und damit wenige Ausgleichsmandate, spricht einiges dafür, dass es dann vorerst bei der modifizierten Variante des alten Wahlsystems bleibt. Doch gibt es nicht wenige Stimmen, die schon heute von einem Übergangswahlrecht nur für 2013 sprechen und eine gründlichere Reform für die Wahlen in künftigen Jahren fordern. Die Überlegungen gehen hin bis zu einem regelrechten Systemwechsel.
Was die Parteien favorisieren
Im Bundestag selbst gibt es quasi drei Lager. Schwarz-Gelb hat nach dem Scheitern des eigenen Entwurfs in Karlsruhe im Juni 2012 keinen weitergehenden Ehrgeiz mehr erkennen lassen. Union und FDP haben derzeit keine Reformmodelle. Die Sozialdemokraten wiederum würden, um über das von ihnen auch für die Zukunft favorisierte Ausgleichsmodell nicht zu große Parlamente zu bekommen, nach 2013 einen weiteren Schritt machen: Die Zahl der Wahlkreise soll kleiner werden, die Zahl der Listenmandate würde sich entsprechend vergrößern – was von selbst dazu führt, dass es weniger Überhangmandate oder gar keine mehr gäbe. Und damit weniger Ausgleich. Aber das SPD-Modell hat seine Tücken – weil es letztlich, will man konsequent sein, auf das Streichen von einigen Dutzend (Fachleute sprechen von etwa 70) Wahlkreisen hinausliefe. Deren „Inhaber“, also die Wahlkreisgewinner, sitzen freilich in dem Bundestag, der darüber beschließen soll, ihnen die Machtbasis zu nehmen. Es gibt Zweifel, ob die in aller Regel recht selbstbewussten Direktmandatsbesitzer in großer Mehrheit mitmachen. Zudem müssten völlig neue Wahlkreise geschnitten werden, kein ganz einfaches Unterfangen, weil auch hier Besitzstände und Gewohnheiten eine Rolle spielen.
Grüne und Linke würden wohl an ihren – einander ähnelnden – Vorschlägen festhalten, die Überhangmandate nicht durch Zusatzsitze, sondern durch Streichung von Listenmandaten ausgleichen. Die Nachteile: Der Regionalproporz wird verzerrt (unter Umständen sogar deutlich), sichere Listenplätze könnten nicht mehr ziehen, weil sie gestrichen werden müssen, und Überhangmandate von Regionalparteien ohne weitere Landeslisten (wie bei der CSU) können nicht verrechnet werden. Die Linken würden das akzeptieren, die Grünen haben vorgeschlagen, dann Direktmandate solcher Regionalparteien zu streichen. Union und SPD wollen das nicht. Insofern sind die Chancen für Grün-Links gering.
Das reine Verhältniswahlrecht
Das reine Verhältniswahlrecht mit Bundeslisten wäre einfach und auf den ersten Blick sehr gerecht, was den Parteienproporz angeht. Dann bräuchte man kein kompliztiertes dreistufiges Zuteilungsverfahren mehr wie bisher – mit den Direktmandaten, der Oberverteilung der Sitze nach dem bundesweiten Zweitstimmenergebnis und der Unterverteilung auf die Landeslisten der Parteien. Die gewohnten Wahlkreise gäbe es nicht mehr. Allerdings: Bundeslisten sind Monsterlisten. Es müssten dort bei den großen Parteien mehrere hundert Namen stehen, und auch bei den kleinen noch ziemlich viele. Bundeslistenparteitage wären Mammutabstimmungen, die bis in Details hinein vorbereitet werden müssten: Regionalproporz, Geschlechterverhältnis, Rücksicht auf die sozialen Gruppierungen, Flügelausgleich und so weiter, bis hinunter in jene Ränge, die vielleicht nur als Nachrücker in Frage kommen. Die Parteiführungen bekämen dadurch einen weit größeren Einfluss als heute, denn nur sie wären in der Lage, diesen komplexen Listenfindungsprozess zu steuern. Die Basisorganisationen und auch die Bürger hätten das Nachsehen, denn die einmal festgeklopften Listen wären eine Vorauswahl, die das ganze System weniger demokratisch macht. Anhänger des reinen Verhältniswahlrechts wissen das und empfehlen daher, die Listen zu öffnen für mehr Einfluss der Wähler. Also etwa durch gezieltes Ankreuzen bestimmter Kandidaten. Oder durch „Häufeln“, wenn man mehrere Stimmen hat. Das ist jedoch bei Mammutlisten eine schwierige Sache und eher für Kommunalwahlen geeignet.
Herumdoktern am falschen System
Das System der Mehrmandatswahlkreise
Mehr Fürsprecher hat deswegen das System mit Mehrmandatswahlkreisen (ungefähr) gleicher Größe. Es wäre eine reine Verhältniswahl im Kleinen. Je nach Größe dieser Wahlkreise könnte man aber auch von mehreren Direktkandidaten sprechen. Bei 20 Abgeordneten je Wahlkreis beispielsweise hätte man noch 30 Wahlkreise. Ähnlich war es in der Weimarer Republik. Martin Fehndrich, einer der Betreiber der Info-Seite „Wahlrecht.de“ und erfolgreicher Kläger gegen das alte Wahlrecht in Karlsruhe, gehört zu den Verfechtern der Mehrmandatswahlkreise. Auch die Organisation „Mehr Demokratie“, welche die Klagen in Karlsruhe unterstützte, plädiert für diese Variante. Fehndrich sieht den Vorteil darin, dass es „keine großen Verzerrungen“ bewirkt – allerdings nur, wenn weiterhin eine bundesweite Sitzzuteilung mit Ober- und Unterverteilung von Mandaten stattfindet. Stünden die Wahlkreise sozusagen unverbunden zueinander, könnte die Sitzverteilung am Ende durchaus etwas neben dem bundesweiten Parteienproporz liegen. „Die Länder könnten als Wahlgebiete verschwinden, oder aber als ,Zwischenebene’ erhalten bleiben“, sagt Fehndrich. Es komme letztlich auf die konkrete Ausgestaltung an. Bei der Wahlkreisgröße will Fehndrich sich nicht festlegen, letztlich ist das auch eine Frage, wie das Parteiensystem aussieht. „Grundsätzlich gilt aber: Kleine Wahlkreise mit weniger Abgeordneten passen besser bei großen Parteien, große Wahlkreise passen besser zu kleinen Parteien.“
Den SPD-Vorschlag, künftig die Zahl der Einerwahlkreise zu reduzieren, hält Fehndrich für ein „Herumdoktern am falschen System“. Es löse das grundsätzliche Problem nicht – und das liege in der Entwicklung, dass die großen Parteien eben nicht mehr so groß seien. Ein Beispiel für Mehrmandatswahlkreise liefert in Deutschland das Hamburger Wahlsystem. Auch in der europäischen Nachbarschaft wird man fündig: „Dänemark und Schweden haben Wahlkreise in der Größenordnung 10 bis 12 und haben eine Oberverteilung, die für den landesweiten Proporz sorgt“, sagt Fehndrich.
Das System der Zweimandatswahlkreise
Eine Variante, die am derzeitigen System der personalisierten Verhältniswahl festhält, ist die Ersetzung der Einerwahlkreise durch Zweimandatswahlkreise. Das hat zum Beispiel der Politologe Joachim Behnke aus Friedrichshafen vorgeschlagen. Damit könnte das Problem der Überhangmandate und ihres Ausgleichs weitgehend gelöst werden. In jedem Wahlkreis würden mit der Erststimme zwei Kandidaten gewählt – eben die mit den meisten Stimmen. Das würde dazu führen, dass Grüne und Linke wohl mehr Direktmandate hätten als heute. Sogar die FDP hätte Chancen, Direktkandidaten durchzubringen. Die Zahl der Wahlkreise müsste allerdings halbiert werden, wobei Behnke auch einen Anteil von 60 Prozent Direktmandaten für möglich hält.
Das System ohne Parteilisten
Ein weiteres Modell, das die Verhältniswahl stärker personalisiert, ist ein Wahlsystem, wie es heute in Baden-Württemberg angewendet wird. Dort findet die Wahl der Abgeordneten nur über Wahlkreise statt, Parteilisten gibt es nicht. Es gibt auch nur eine Stimme, Splitting ist daher nicht möglich. Die Listen stellen sich am Wahltag quasi von selbst auf, denn neben den Wahlkreisgewinnern ziehen (gemäß dem Parteienproporz) die Kandidaten jeder Partei mit den relativ besten Wahlkreisergebnissen ins Parlament ein. Eine Variante dessen vertritt der Berliner Politologe Volker von Prittwitz. Er nennt das „Einstimmensystem mit impliziter Listenwahl“. Der jeweils Wahlkreisbeste zieht in den Bundestag ein, dazu die bundesweit Besten der Parteien je nach Prozentergebnis – so weit die Partei nach dem Gesamtproporz Sitze besetzen kann. Allerdings schlägt Prittwitz auch vor, dass jede Partei in jedem Wahlkreis zwei Kandidaten aufstellt – durch diese „kooperativen Duelle“ hätte der Bürger mehr Auswahl. Die Ergebnisse der beiden Parteikandidaten würden für das Gesamtergebnis wiederum addiert. Da bundesweit zugeteilt würde, wären Überhangmandate laut Prittwitz eher unwahrscheinlich, weil der Splittingeffekt (eine Ursache für Überhangmandate) nicht mehr besteht. Ganz beseitigt wäre das Problem aber nur, wenn nicht alle Wahlkreissieger zum Zuge kämen, sondern im Fall von Überhangmandaten die „schlechtesten Besten“ der betroffenen Partei gestrichen würden. Die Wahlkreisebene würde in diesem System deutlich gestärkt. Das dürfte das Modell für die Parteiführungen wenig attraktiv machen.
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