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FAZ-Feuilletonchef Frank Schirrmacher löste mit seinem Kommentar, wonach die Linke "vielleicht doch Recht habe" noch mehr Verwirrung beim bereits zuvor verwirrten Bürgertum aus.
© dpa

Gastkommentar: Schirrmacher, das orientierungslose Bürgertum und die Krise der FDP

Nach der Wirtschaft, den Liberalen und dem Euro hat die Krise des Neoliberalismus nun auch das Feuilleton der FAZ erreicht. Doch Frank Schirrmacher irrt. Ums Recht haben geht es in der Politik schlichtweg nicht.

Es ist derzeit nicht einfach, in der Politik und in der Welt der Parteien den Überblick zu behalten. Die CDU schaltet die deutschen Atomkraftwerke ab, die FDP tritt in Sachen Europa kräftig auf die Bremse und die SPD fordert die Beteiligung Deutschlands am Krieg in Libyen. Trotz Turboaufschwung und sinkenden Arbeitslosenzahlen verlieren die regierenden Christdemokraten und Liberalen eine Wahl nach der anderen.

Die Grünen hingegen erobern die Herzen vieler bürgerlicher Wähler und der erste grüne Ministerpräsident Winfried Kretschmann ist nach 100 Tagen Amt bereits der beste Freund der Autoindustrie in Baden-Württemberg. In den USA wiederum will der Milliardär Warren Buffett mehr Steuern zahlen und in Großbritannien zerstören Jugendliche aus der Unterschicht ihre eigene Nachbarschaft. Dazu stürzen die Börsen weltweit ab, obwohl die Auftragsbücher vieler Firmen voll sind. Nicht die Realwirtschaft zieht die Welt in die Krise, sondern Politiker, die nicht sparen können und Spekulanten, die darauf wetten, dass der Euro daran zugrunde geht. Pessimisten sehen bereits die gesamte westliche Welt am Abgrund stehen.

Vor einer Woche nun hat dazu der Groß-Feuilletonist Frank Schirrmacher nach Lektüre einer britischen Zeitung die Frage aufgeworfen, ob die Linke mit ihrer Gesellschafts- und Kapitalismuskritik in den letzten Jahrzehnten nicht doch recht gehabt habe? Ob Gewissheiten, die der politische Konservatismus ein ganzes Leben lang gepredigt hat, sich als falsch erwiesen haben könnten? Dient das gesamte politische System nur den Reichen?

Es ist nicht zu übersehen, die politische Welt steht Kopf, das konservative Bürgertum zelebriert seine Orientierungslosigkeit und Selbstdesillusionierung mit Stil. Die politische Linke hingegen weiß nicht, wie ihr geschieht. Die Linkspartei ist in der Vergangenheit gefangen, streitet über den Mauerbau und Fidel Castro. Die Sozialdemokraten haben sich noch immer nicht von dem Versuch erholt, den vorsorgenden Sozialstaat zu erfinden, die Arbeitsverhältnisse zu flexibilisieren und der Unterschicht mit den Hartz-Reformen mehr Eigenverantwortung abzufordern.

Einerseits verwundert es, dass konservative Intellektuelle erst im Jahr vier der zweiten Weltwirtschaftskrise Zweifel an ihrem Weltbild äußern. Es hat offenbar gedauert, bis die Krise des Neoliberalismus nach der Wirtschaft und den Liberalen nun auch das Feuilleton der FAZ erreicht. Andererseits irrt Frank Schirrmacher und mit ihm auch der von ihm zitierte Brite Charles Moores ganz grundsätzlich.

In der Politik geht es nicht darum, wer Recht hat oder wer Recht bekommt, dafür ist die Geschichtsschreibung zuständig. In der Politik wird um Macht und Interessen gerungen, es geht um Ideologie und um Einfluss, um gesellschaftliche Konflikte und gesellschaftliche Hegemonie. Und ganz offensichtlich haben sich in den vergangenen Monaten und Jahren die ökonomischen Interessen verändert und gesellschaftliche Konfliktlinien verschoben. Weltbilder sind zusammengebrochen und ideologische Glaubenssätze haben ihre Überzeugungskraft verloren. Dazu haben sich die machtstrategischen Koordinaten im Parteiensystem fundamental verschoben.

Erst langsam gewöhnen sich die Deutschen daran, dass die alten ökonomischen Gewissheiten nicht mehr weiterhelfen. Zwei Jahrzehnte lang zum Beispiel war Umverteilung in Deutschland ein Tabuwort. Die Kluft zwischen Arm und Reich wurde in derselben Zeit immer größer. Jetzt werden die Rufe nach höheren Steuern für Reiche immer lauter und populärer. Die Mittelschicht hing lange der Illusion nach, an den von staatlichen Fesseln befreiten Märkten und am Spekulationsboom der Börsen mitverdienen zu können. Von flexibilisierten Arbeitsverhältnissen, Minijobs und Zeitarbeit waren andere betroffen.

Doch die wirklichen Reichen und die Spekulanten gönnten ihnen nicht einmal ein paar Brosamen. Inzwischen jedoch haben viele Handwerker und Freiberufler, Beamte und Industriearbeiter gemerkt, dass nicht nur die Banken ihre Ersparnisse verspekuliert haben, sondern dass sie noch einmal draufzahlen, wenn der Staat nun die Krise bekämpft und den Euro rettet.

Der tiefe Fall der FDP und der Zusammenbruch des Neoliberalismus - lesen Sie mehr auf Seite 2.

Angesichts der Orientierungslosigkeit des Bürgertums ist es kein Wunder, dass die FDP um ihr politisches Überleben kämpft. Im Bundestagswahlkampf 2009 haben die Liberalen ihre Wähler noch einmal mit dem Versprechen mobilisiert, dass die eigene Klientel nicht mit den Kosten der Krise belasten wird. Vor allem diese Botschaft steckte hinter der Wahlkampfbotschaft „mehr Netto vom Brutto“, die der Partei mit 14,6 Prozent ein Rekordergebnis bescherte. Alle Zweifel an den neoliberalen Ideologen, die auch schon vor zwei Jahren unübersehbar waren und selbst die CDU längst erreicht hatte, wurden dabei verdrängt.

Die Hoffnung, dass andere für die Krise zahlen, hat sich mittlerweile als bürgerliche Illusion entpuppt und an dem tiefen Fall der Liberalen ist deshalb auch nur vordergründig das unerfüllte Steuersenkungsversprechen schuld. Tatsächlich hadern die Anhänger mit ihrer FDP, weil sie keine Antwort auf den Zusammenbruch des Neoliberalismus findet. Die alten Parolen, wie „Bierdeckelsteuer“, „Markt statt Staat“ oder „Liberalisieren, Deregulieren, Privatisieren“, will niemand mehr hören.

Die alten wirtschaftsliberalen Glaubenssätze haben sich im Nichts aufgelöst, die ökonomischen Interessen der liberalen Klientel lassen sich nicht mehr auf einen Nenner bringen. Guido Westerwelle ist über diese Orientierungslosigkeit nach dem Ende der neoliberalen Hegemonie als Parteivorsitzender gestürzt. Als Philipp Rösler vor dreieinhalb Monaten dessen Nachfolge antrat, versprach er, die FDP werde nun liefern. Nur was soll die Partei nun liefern?

Nicht einmal die Macht für das bürgerliche Lager können die Liberalen garantieren. Ein verlässlicher Mehrheitsbeschaffer für die CDU sind sie nicht mehr. Was dies bedeutet, wird sich schon im September bei den Landtagswahlen in Mecklenburg-Vorpommern und Berlin zeigen. Niemand rechnet damit, dass der Partei dort der Sprung über die Fünf-Prozent-Hürde gelingt. Auch für die Bundestagswahl 2013 haben CDU und CSU mittlerweile große Zweifel daran, dass es noch einmal für Schwarz-Gelb reichen könnte.

Ihr Heil suchen die Liberalen nun als Bremser in Sachen Europa und hoffen so, mit dosiertem Rechtspopulismus zumindest von der in der Bevölkerung weitverbreiteten Euro-Skepsis zu profitieren. Ein Teil ihrer klassischen Klientel stoßen sie damit allerdings vor dem Kopf. Denn es gibt in der Wirtschaft und im Mittelstand weiterhin viele, die von Europa und dem Euro profitieren. Vor allem große deutsche Unternehmen drängen auf eine Euro-Rettung um jeden Preis. Während die FDP die Einführung von Eurobonds zur deutschen Schicksalsfrage und zur Koalitionsfrage erhebt, fordern die exportorientierte Wirtschaft, ehemals neoliberale Wissenschaftler und die einst europaskeptische Linkspartei gleichermaßen deren schnelle Einführung. Die Motive mögen unterschiedlich sein, aber trotzdem ist es erstaunlich, welche Allianzen sich da im neuen Klassenkampf plötzlich zusammenfinden.

Angesichts von so viel politischer Unübersichtlichkeit kann einem richtig schwindelig werden und man fühlt sich fast zwangsläufig an Ernst Jandl erinnert, der einst dichtete: „manche meinen, lechts und rinks kann man nicht velwechsern, werch ein illtum.“

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