100 Tage Grün-Rot in Baden-Württemberg: Zwischen Eintracht und Misstrauen
Stuttgart 21 belastet die grün-rote Koalition in Baden-Württemberg – allein die Popularität von Ministerpräsident Winfried Kretschmann überdeckt den Riss.
Den Mahagoni-Schreibtisch im Empire- Stil, den ihm sein schwarzer Vorgänger hinterlassen hat, will Bundesratsminister Peter Friedrich (SPD) noch durch ein schlichtes Modell austauschen. Aber an die Aussicht seines Amtszimmers im Nordflügel der Villa Reitzenstein, dem Sitz der Stuttgarter Regierungszentrale, hat sich der 39-Jährige bereits gewöhnt: Vom ersten Stock blickt er auf den Eingang der „Villa“, auf all die Besucher, die Arbeitgeberpräsidenten, Gewerkschafter und Lobbyisten, die im Zentrum baden-württembergischer Macht Unterstützung für ihre Anliegen suchen.
58 Jahre hat die CDU die Pforte zum Staatsministerium geöffnet – und unzählige Türen im Land. Seit der Vereidigung der neuen Regierung am 12. Mai halten Grüne und Rote die Schlüssel zur Macht im konservativ geprägten „Ländle“ in Händen, und nach fast 100 Tagen Amtszeit stellt sich die Frage, was sie damit anfangen können.
„Stuttgart 21 überdeckt zurzeit vieles, was gut läuft“, sagt Friedrich. Tatsächlich hat die neue Regierung allerlei Türen geöffnet oder geschlossen, sie hat die Abschaffung der Studiengebühren und der verpflichtenden Grundschulempfehlung beschlossen und im Bundesrat am Kompromiss zur Energiewende mitgewirkt. All das wird aber vom Dauerstreit der grünen Stuttgart-21-Gegner und der roten Befürworter der Bahnhofstieferlegung überlagert. Doch wenn Friedrich aus seinem Fenster blickt, sieht er nicht die Proteste im Stuttgarter Talkessel, sondern einen Hoffnungsschimmer am Horizont: „Wir haben den Volksentscheid im Wahlkampf versprochen. Wenn er zu einer Befriedung führt, kann das in der Retrospektive ein Zeichen für die Sinnhaftigkeit des Wechsels und ein Höhepunkt grün-roter Regierungstätigkeit werden.“
Der Volksentscheid ist der Schlüssel, der Grün-Rot einen Ausweg aus dem Bahnhofsdilemma eröffnen soll. Die Frage ist angesichts juristischer Zweifel am Verfahren nur, ob er auch passt, und wie Grüne oder Genossen mit einer Niederlage umgehen werden. So bleibt der Bahnhof erst einmal, was er ist: eine Gefahr nicht nur für die Außenwahrnehmung, sondern auch für die innere Balance der Regierung.
Lesen Sie auf Seite 2, wie die Koalition den Weg aus der Krise sucht.
Noch als SPD-Generalsekretär hatte Friedrich in der Endphase des Wahlkampfs mit Grünen-Landeschefin Silke Krebs gemeinsame Auftritte der Spitzenkandidaten Winfried Kretschmann (Grüne) und Nils Schmid (SPD) organisiert. Das Doppel sollte den Wählern signalisieren: Es gibt ein gemeinsames Regierungsprojekt. Nun versuchen Friedrich und Krebs, die als Staatsministerin die rechte Hand des Ministerpräsidenten ist, das Projekt am Laufen zu halten. Der rote Grünen-Versteher und die grüne SPD-Versteherin verkörpern den gemeinsamen Teil dieser Regierung.
Unlängst zelebrierten auch SPD-Fraktionschef Claus Schmiedel und Grünen-Verkehrsminister Winfried Hermann Eintracht. Die CDU hatte im Landtag eine Debatte beantragt, sie trug den Titel „Stuttgart 21: Verkehrsminister auf Geisterfahrt?“ Die Überschrift sei „daneben“, rief Schmiedel in gespielter Empörung. Die CDU wolle nur von eigenen Versäumnissen im Verkehrsbereich ablenken. Hermann nickte. Doch die zur Schau gestellte Gemeinsamkeit währte nur kurz.
Hermann ist so etwas wie die letzte Hoffnung der Protestbewegung – und Schmiedel sein Konterpart. Beide stehen für die reine Parteilehre, jeder für sich. Während Friedrich und Krebs die grün-roten Gemeinsamkeiten suchen, markieren Schmiedel und Hermann die Trennlinien. Als die Grünen versuchten, den von S-21-Schlichter Heiner Geißler vorgeschlagenen Kompromiss eines kombinierten Tief- und Kopfbahnhofs zur Regierungslinie zu machen, drohte Schmiedel mit dem Bruch des Bündnisses: „Wer den Volksentscheid infrage stellt, stellt die Koalition infrage.“
Der schöne Plan, bei Stuttgart 21 einfach das Volk entscheiden zu lassen, um die Kräfte ganz aufs gemeinsame Regieren konzentrieren zu können, geht bislang nicht auf. Vielmehr droht der Streit, das Klima in einer Koalition zu vergiften, in der das Misstrauen mitregiert. Die SPD habe nicht verkraftet, dass sie nicht den Ministerpräsidenten stelle und kämpfe daher verzweifelt um Aufmerksamkeit, schimpfen sie bei den Grünen. Die Genossen wiederum werfen der Ökopartei vor, gemeinsame Beschlüsse immer wieder infrage zu stellen statt Kompromisse gegenüber der eigenen Basis zu vertreten.
Angesichts dieser Gemengelage sucht der Ministerpräsident nach dem rechten Weg. Kretschmann hat es Grün-Rot vor allem zu verdanken, dass die Opposition aus den Schwierigkeiten bislang wenig Profit schlagen kann. Seine Popularität ist selbst in konservativen Kreisen so groß, dass der frühere CDU-Regierungschef und jetzige EU-Kommissar Günther Oettinger seine Partei vor direkten Angriffen auf seinen Nach-Nachfolger warnt: „Lasst den Kretschmann in Ruhe. Der ist Kult.“ Bislang hat es der 63-Jährige mit seiner landesväterlichen Art sogar geschafft, die Grabenkämpfe um den Bahnhof weitgehend unbeschadet zu überstehen.
Roland Muschel