Pro und Contra Infektionsschutzgesetz: Rettet uns mehr Zentralismus vor Corona?
Das Infektionsschutzgesetz des Bundes fordert den Föderalismus heraus. Ist das längst überfällig oder doch unverhältnismäßig? Zwei Meinungen.
Das vorherrschende Gefühl ist Zermürbung: Ein Pro
Pro Zentralismus von Julius Betschka: Der Ansatz ist schon absurd: In stundenlangen politischen Plena sollen sich 16 Landesfürsten aus verschiedenen Parteien, mit einer – zumindest gefühlt – verschieden großen Corona-Betroffenheit einen Plan gegen die Pandemie austüfteln. So ähnlich funktionieren Studierendenparlamente, eine einheitliche Eindämmungsstrategie gegen ein lebensgefährliches Virus entwickelt man so nicht.
Dass der Bund nun Kompetenzen im Kampf gegen die Pandemie an sich ziehen will, ist deshalb nicht nur richtig, sondern auch überfällig.
Eigentlich hat das System der Bund-Länder- Runden in mehr als einem Jahr Pandemie nur einmal so richtig funktioniert: im Frühjahr 2020, als Politik und Volk die Angst vor einem deutschen Bergamo einte. Danach erging man sich in Kompromissen, Fußnoten und Formelkompromissen. Heraus kam eine Mittelinzidenzstrategie, die weite Teile der Wirtschaft schädigt und dazu viele Tote in Kauf nimmt.
Ein dramatischer Vertrauensverlust für die Politik
In dem einem Bundesland, so musste man angesichts der vielen Regeln annehmen, trifft das Virus die Menschen offenbar anders als jenseits der Landesgrenze. Welche Regel heute wo gilt, das weiß längst kaum mehr jemand. Der Lockdown wirkt endlos, es ist weder wirklich klar, wie das Ende aussehen soll, noch, wie es erreicht werden kann. Die 100er Notbremse durch ein Bundesgesetz zu beschließen, kann deshalb auch nur ein erster Schritt sein beim Eingriff in die Regelungskompetenz der Länder.
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Nein, Deutschland ist nicht der einzige kranke Mann Europas. Auch Länder wie Frankreich stehen trotz zentralisierter Pandemiebekämpfung schlimm da. Nur hat sich der deutsche Bund-Länder-Mechanismus stumpf debattiert. Das vorherrschende Gefühl ist Zermürbung. Mit dem bisherigen Verfahren einher geht ein dramatischer Vertrauensverlust in die Wirkmächtigkeit von Politik.
Eine Vereinheitlichung könnte Wunder wirken
Nur noch 19 Prozent der Deutschen waren Ende März zufrieden mit der Corona-Politik. Es braucht deshalb einen Ruck, ein Signal des nationalen Zusammenhalts. Wer nicht mehr an die Sinnhaftigkeit der Corona-Maßnahmen glaubt (oder sie gar nicht erst kennt), hält sich auch nicht an sie. Da können die Länderchefs noch so lange Nachtsitzungen abhalten.
Kommunikation in der Krise muss doch vor allem dreierlei sein: schnell, einheitlich und verständlich. All das fehlte zuletzt. Genau wie Glaubwürdigkeit. Eine Vereinheitlichung könnte daher Wunder wirken. Bundeskanzlerin Angela Merkel könnte jenes Vertrauen ausstrahlen, das jetzt fehlt. Sie dringt schon lange auf schärfere Maßnahmen. Sie kann sich außerdem zugute halten, im Herbst durch ihren Druck und gegen den Willen der Ministerpräsidenten die zweite Welle zumindest gebremst zu haben.
Schließlich kommt die Kanzlerin auch nicht hinter ihren TV-Auftritt bei Anne Will zurück. Seitdem starren die Länderchefs eher gespannt Richtung Kanzleramt, als neue Ideen zu entwickeln. Diese Lethargie muss enden. „Der Bund kann die Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie vollumfänglich gesetzlich regeln“, hat der Wissenschaftliche Dienst des Bundestags in einem aktuellen Gutachten herausgearbeitet. Jetzt ist die Zeit dafür, sie rennt mit jedem verstrichenen Tag davon.
Warum plötzlich die Zentralismus-Keule? Ein Contra
Contra Zentralismus von Albert Funk: Man kann es auch mal so sehen: Deutschland hat einen 17-fachen Zentralismus. Einmal den des Bundes für das Gesamte. Und dann den der 16 Länder für das Regionale. Welcher Zentralismus besser ist, der gesamtstaatliche oder der föderal aufgefächerte, ist jetzt der eigentliche Streitpunkt.
In der Coronakrise sind wir eigentlich mit dem Auffächern so schlecht nicht gefahren. Warum also plötzlich die Zentralismus-Keule? Denn nichts anderes ist der bisher vorliegende Entwurf für eine Ergänzung des Infektionsschutzgesetzes.
Natürlich war zu Beginn der Krise eine gesamtstaatliche Antwort richtig. Damals hat die Kanzlerin das Fähnlein der Länder mitgezogen. Als sich die Lage zu entspannen begann, war Auffächern die richtige Reaktion. Damit war es jenen Ländern, die mehr Probleme hatten, möglich, etwas länger mit härteren Maßnahmen gegenzuhalten. Dort, wo sich die Lage schneller entspannte, konnte leichter gelockert werden. Übrigens immer auf einer bundesgesetzlichen Grundlage.
Was im Bundesgesetz steht, ist starr und unflexibel
Dass Angela Merkel und andere im Herbst antreiben mussten, als die zweite Welle im Rollen war, ist richtig. Nicht alle Länderchefs hatten ein Einsehen in die Notwendigkeit einer schnellen Reaktion. Aber in der dritten Welle haben die meisten Länder jetzt die Maßgaben auch der „Notbremse“ keineswegs umgangen oder verzögert. Sie gilt mit Zusätzen und Abstrichen, die sich jeweils durchaus begründen lassen, überall. Das angebliche 16-fache Chaos – das gibt es so nicht.
[Mehr zum Thema mit T+: .„Die Leute verstehen es nicht mehr so richtig“ - Lesen Sie hier, wie das Berliner Ordnungsamt die Corona-Maßnahmen umsetzt.]
Was nun ins Bundesgesetz geschrieben wird, ist ein Automatismus, starr und unflexibel. In der ersten Welle wäre das in Ordnung gewesen. Heute hat man mehr Erfahrungen, man kann differenzierter an die Bekämpfung der Pandemie herangehen. Man hat auch erste Impferfolge, das Testen kommt hinzu. Warum da ein allein von Inzidenzwerten abhängiger bundesweiter Mechanismus sein muss, ist schleierhaft.
Der Bund hat keinen eigenen Verwaltungsapparat, der tief ins Lokale hineinreicht. Man fragt sich, worauf er seine Maßnahmen gründet. Verbände und Wissenschaft offenbar – die noch vielstimmiger sind als die Ministerpräsidentenkonferenz es je sein könnte.
Ein Aspekt ist natürlich, ein bundesweites Signal zu geben – nationales Zusammenstehen sozusagen. Lasst es uns jetzt gemeinsam wuppen, nur ein paar Wochen noch. Aber auch hier gilt: Wir sind weiter als in den ersten beiden Wellen. Ein Ansatz des Auffächerns muss da nicht falsch sein. Was den Verantwortlichen in Thüringen oder Bayern jetzt nutzen mag, ist für Schleswig-Holstein, Niedersachsen oder das Saarland nicht der richtige Weg.
Die Kommunen können ihr Infektionsgeschehen gut einordnen
Aber man muss ja noch weiter unten ansetzen. Es sind vor allem die Kommunen, die jetzt vom Bundesgesetz quasi verdonnert werden, so und nicht anders zu handeln. Sie wissen aber ganz gut, wie sie ihr Infektionsgeschehen einzuordnen haben. Und sie können das ganze Spektrum der Maßnahmen des Infektionsschutzgesetzes dafür nutzen. Passgenau, weil in eigener Verantwortung.
Mit dem verfügten Automatismus geht hier eher etwas verloren – Ermessensspielraum, Eigenverantwortlichkeit, Problemnähe. Er bringt die Gefahr der Unverhältnismäßigkeit.