Libyen: Tripolis ist im Rausch
Jubelschreie, Freudenschüsse, Autohupen: Tripolis frohlockt. Zum kompletten Sieg fehlt den libyschen Rebellen aber noch die Ergreifung von Muammar al Gaddafi. Deshalb geht ihr Kampf weiter.
Immer wieder schreit es der Mann in sein Handy: „Es ist vorbei, der Struwwelkopf ist weg.“ Tripolis ist gefallen. Vierzig Jahre Muammar al Gaddafi, sechs Monate Bürgerkrieg – und dann plötzlich innerhalb von 48 Stunden das spektakuläre Ende des verhassten Regimes.
Libyens Rebellen schreiben dieser Tage Geschichte. Am Sonntagabend besetzten ihre Kämpfer zum ersten Mal den symbolträchtigen Grünen Platz im Zentrum der Hauptstadt, monatelang der zentrale Propagandaort des exzentrischen Diktators und seiner Anhänger. Die ganze Nacht hallten Jubelschreie und Autohupen durch die Straßen, Menschen lagen sich in den Armen. „Allah ist groß“, schallte es aus zehntausenden Kehlen.
Lustvoll zertrampelten die Leute Gaddafi-Poster, die sie von den Hausfassaden in Tripolis gerissen hatten. Unübersehbar war das Meer von Victory-Zeichen und rot-grün-schwarzen Rebellen-Fahnen. Freudenschüsse aus Kalaschnikows knatterten in den sommerlichen Nachthimmel von Tripolis, genauso wie in Bengasi, der 1000 Kilometer entfernten Rebellenhochburg im Osten des Landes.
Der Präsident des Übergangsrats, Mustafa Abdel Dschalil, kündigte an, das 20-köpfige Gremium werde schon „in Kürze“ seinen Sitz nach Tripolis verlegen, um ein Machtvakuum zu verhindern. Gleichzeitig rief er in einem eindringlichen Appell die Kämpfer auf, keine Rache an Gaddafi-Anhängern zu üben, nicht zu plündern oder Ausländer zu misshandeln. Das historische Blitzfinale der Selbstbefreiung soll nicht durch blutige Exzesse verdunkelt werden.
Begonnen hatte der Volksaufstand am 17. Februar im Osten des Landes. Sechs Wochen später retteten Nato-Kampfjets die Rebellen vor dem sicheren Untergang, als sie in letzter Minute Gaddafis Panzer und Grad-Raketenwerfer an der Stadtgrenze von Bengasi stoppten. Monatelange schwere Kämpfe folgten, die bisher mehr als 10 000 Menschen das Leben kosteten.
Doch trotz intensiver Nato-Luftunterstützung schien den Rebellen die Kraft zu fehlen, die gut gerüsteten Einheiten des Diktators zu besiegen. Insgesamt 19 877 Einsätze gab es seit März, davon 7505 Raketen- und Bombenangriffe. Und trotzdem klang noch vor zwei Wochen die damalige Ankündigung aus Bengasi, man werde das Ende des Fastenmonats Ramadan in Tripolis feiern, wie eine naive Utopie.
Mit ausschlaggebend für den überraschenden militärischen Erfolg der so genannten „Operation Meerjungfrau in der Morgendämmerung“ waren nun offenbar eine Offensive von See her und eine sorgfältige Platzierung von Untergrundzellen in der Hauptstadt, die am Samstag nach dem Abendgebet auf Kommando losschlugen. Per Schiff wurden mehr als 1000 Kämpfer nahe Tripolis abgesetzt, unterstützt durch dutzende Schnellboote mit gut Bewaffneten, die unter den Augen der Nato-Seemacht entlang der Küste an Land gingen. Parallel dazu erhöhte die westliche Allianz die Taktzahl ihrer Luftangriffe erheblich.
Wichtig aber war auch der Seitenwechsel der in der Stadt stationierten Elitegarnison, so dass die Rebellen praktisch ungehindert bis ins Zentrum durchmarschieren konnten. Der Kommandeur lief über, weil er noch eine Rechnung mit dem Despoten offen hatte. Dieser hatte den Bruder des Offiziers vor Jahren wegen eines angeblichen Umsturzversuches exekutieren lassen.
Ungeachtet dessen krächzte Muammar Gaddafi noch einmal in zwei Audio-Botschaften Sieges- und Durchhalteparolen an seine Anhänger. „Ich bin mit euch, ich bin in Tripolis und kämpfe mit euch bis zum Ende.“ Die Rebellen beschimpfte er als Ratten. Sie würden Tripolis genauso niederbrennen wie Bagdad – „wie könnt ihr das zulassen?”, wetterte er. Denn dann werde es weder Wasser, Essen, Elektrizität und Freiheit geben. Sein Sohn und einstmals designierter Nachfolger Saif al Islam – inzwischen mit dichtem Bart statt modischem Stoppelgesicht – hatte am Sonntag ein letztes Mal im Staatsfernsehen auf eine Schar handverlesener Anhänger eingeredet. Inzwischen ist er von den Rebellen verhaftet, genauso wie sein ältester Bruder Mohammed, der die Telekommunikationsunternehmen des Landes kontrollierte.
Gegen Saif al Islam hatte der Internationale Strafgerichtshof vor zwei Monaten Haftbefehl erlassen, genauso wie gegen seinen Vater Muammar und Geheimdienstchef Abdullah al Sanoussi. Allen dreien werfen die Ankläger Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor, darunter Morde an hunderten Zivilisten, Folter und die Organisation von Massenvergewaltigungen, um die Bevölkerung einzuschüchtern. Außerdem sollen sie versucht haben, ihre Verbrechen zu vertuschen. Saif al Islam könnte schon in den nächsten Tagen nach Den Haag überstellt werden.
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„Das Fehlen von Voraussicht und Weisheit hat uns zu diesem Punkt gebracht“, rief Gaddafi-Spross Mohammed in einem dramatischen Telefongespräch mit Al Dschasira, bei dem die Zuhörer seine Festnahme live miterleben konnten. Plötzlich waren im Hintergrund Schüsse und Schreie zu hören. „Sie haben mein Haus umzingelt, sie sind bereits innerhalb meiner vier Wände“, rief er noch, dann brach die Leitung zusammen. Später ließ der Provisorische Nationalrat erklären, der Gesuchte sei bei seiner Festnahme nicht verletzt worden.
Trotzdem war am Montag der Sieg keineswegs komplett und die Gefahr eines Blutbads nicht gebannt. Nach Schätzung der Rebellenführung kontrolliert das Regime noch 15 bis 20 Prozent des Stadtgebietes. In den meisten Wohnvierteln blieben die Menschen am Montag aus Angst vor Gewalttaten zu Hause. Denn immer noch sind Scharfschützen auf den Dächern verschanzt oder schießen aus Autos heraus auf Passanten. Im Rixos-Hotel halten Gaddafi-Kämpfer rund 40 Journalisten fest und benutzen sie als menschliche Schutzschilde. Angeblich sollen sich auch hochrangige Vertreter des Regimes in dem modernen Hotelkomplex aufhalten, weil sie wissen, dass die Nato das Gebäude nicht bombardieren wird.
Währenddessen tobten den ganzen Tag erbitterte Kämpfe nahe dem Kasernenkomplex Bab al Azizia, wo sich nach Informationen der Rebellenführung Gaddafi offenbar versteckt hält. Panzer verließen am Morgen das Gelände und begannen, auf Wohnhäuser der Umgebung zu feuern, andere Einheiten rückten in Richtung Hafen vor, in dessen Nähe auch der Grüne Platz liegt.
Die Gelegenheit für den Diktator jedoch, sich per Flugzeug in ein Exilland zu retten, scheint endgültig vorbei. „Wir werden jeden Stein umdrehen, um ihn zu finden“, erklärte ein Rebellensprecher in London. Der Flughafen ist bereits in den Händen der Aufständischen, die dort stationierten Sondereinheiten haben sich ergeben. Nachbar Algerien ließ dementieren, Gaddafi habe sich auf seinem Territorium in Sicherheit gebracht. Südafrika wies empört Gerüchte zurück, man wolle dem Diktator zur Flucht verhelfen. „Das Angebot, ins Exil zu gehen, wurde ihm zahlreiche Male und immer eindringlicher gemacht. Jetzt bleibt nur noch der Pfad der Gerechtigkeit – vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag“, kommentierte Italiens Außenminister Franco Frattini.
Nicht nur bei Libyens ehemaliger Kolonialmacht Italien, auch in den Hauptstädten der anderen westlichen Staaten und bei der Nato-Spitze in Brüssel machte sich derweil vorsichtige Erleichterung breit. US-Präsident Barack Obama erklärte an seinem Urlaubsort Martha’s Vineyard, die Herrschaft Gaddafis stehe vor dem Ende und der „libysche Tyrann“ müsse seine Macht nun „ein für allemal“ aufgeben, um weiteres Blutvergießen zu verhindern. Gleichzeitig forderte er die Rebellen auf, bei ihrem Vormarsch die Menschenrechte zu beachten, die staatlichen Institutionen zu schützen und eine demokratische Gesellschaft anzustreben. Der britische Premier David Cameron erklärte, das Regime befinde sich in „totaler Auflösung“. Er versprach der neuen libyschen Führung weit gefächerte Hilfen, um das Land zu stabilisieren. Libyen stünden ohne Zweifel schwierige Zeiten bevor. „Doch heute ist der arabische Frühling einen Schritt weiter entfernt von Unterdrückung und Diktatur, und ein Schritt näher zu Freiheit und Demokratie gelangt.“ Frankreichs Staatspräsident Nicolas Sarkozy, den die Aufständischen fast wie ihren Schutzpatron verehren, pries „den Mut und die Entschlossenheit der Kämpfer und ihrer Führung“.
Auch in Berlin, bei der libyschen Botschaft in Dahlem sind die Zeichen des Umsturzes zu sehen. Hinter dem schmiedeeisernen Zaun weht die rot-schwarz- grüne Rebellenflagge mit Stern und Halbmond. Demonstranten hatten die grüne Staatsfahne schon im vergangenen Februar heruntergerissen und durch die neue ersetzt. Äußern will man sich an diesem Montag zu den Vorgängen allerdings nicht. Auf der Internetseite findet sich nur die Mitteilung, man möge wegen der „aktuellen Geschehnisse“ telefonisch oder per Fax einen Termin vereinbaren. Auch am Tor der Botschaft wird kein Einlass gewährt. „Heute ist ein ganz normaler Arbeitstag“, heißt es da nur von der Stimme aus der Gegensprechanlage.
Nächste Woche treffen sich die Staaten der Libyen-Kontaktgruppe in Paris. Am Morgen war in Brüssel bereits ein aufgeräumter Nato-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen vor die Kameras getreten. „Die Zukunft Libyens gehört dem libyschen Volk“, erklärte er und kündigte an, man werde die verbliebenen Truppen des Regimes weiter genau im Auge behalten.
In Tripolis dagegen können viele ihr Glück noch gar nicht recht begreifen. „Wir stehen tatsächlich kurz davor, das Regime des Tyrannen abzuschütteln“, sagte eine junge Krankenschwester westlichen Reportern. „Das ist wie ein neues Leben – Allah sei Dank.“ (Mitarbeit Johannes Uhl)