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Impfung in einer Station des öffentlichen Gesundheitssystems in Rom.
© Yara Nardi/Reuters

Impfbereitschaft in Italien: Man lässt sich impfen - auch ohne Zwang

In Deutschland wird wegen Corona gemordet, das ewig staatsskeptische Italien zeigt auch ohne Druck von oben Gemeinschaftssinn. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Andrea Dernbach

Sie gilt für alle, die Restaurants besuchen und betreiben, für öffentliche Konzerte, Veranstaltungen und Sportwettbewerbe, für Behörden, Museen, Kulturstätten, Ausstellungen, Schwimmbäder, Fitnessstudios, in Fernzügen und Zahnradbahnen, im Spa, auf Messen und Dorffesten, Konferenzen und Kongressen, in Thermalbädern, Themen- und Freizeitparks, Kulturzentren, Bürgertreffs, Spielsalons, Kasinos. Und das ist nicht einmal die ganze Liste der Orte in Italien, für die man jetzt den so genannten Green Pass braucht, die Bescheinigung gegen das Corona-Virus geimpft oder genesen zu sein.. Aufgezählt werden sie im jüngsten Dekret der Regierung Draghi.

Die Liste hat den Ernst, die Strenge und eine Musikalität, die an einen alttestamentarischen Text denken lässt. Sie lässt praktisch keine Lücken mehr. Zwar vermeidet man das Tabuwort Impfpflicht. Tatsächlich ist sie so gut wie da. Wer in Italien ab 15. Oktober am öffentlichen Leben teilhaben will, muss geimpft oder von Covid-19 genesen sein.

In Italien hat der Corona-Schock gewirkt

Wer nicht mehr ohne Impfnachweis an den Arbeitsplatz darf und andernfalls Lohneinbußen wegen unentschuldigter Abwesenheit risikiert, ist kaum noch frei, sich für oder gegen eine Impfung zu entscheiden. Es sei denn, er oder sie hat ein größeres Portemonnaie: Das Betreten einer der genannten Orte ohne Nachweis kostet mehrere hundert Euro, Firmenleitungen, die den Green Pass ihrer Beschäftigten nicht kontrollieren, müssen bis zu 1000 Euro zahlen. Und ein aktueller Test ist je nach Region nicht unter 50 Euro zu haben.

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Über die Notwendigkeit dieser scharfen Maßnahme lässt sich streiten. Italien war nicht nur das vom Virus am frühestens und stärksten getroffene Land Europas. Die Bürgerinnen und Bürger haben auch schon ohne Druck aus Rom ihre Lehre aus der Pandemie gezogen. Die Impfbereitschaft ist hoch; die besonders vom Virus getroffene Lombardei hat gute Aussichten, bis Ende Oktober eine Impfquote von 90 Prozent zu erreichen.

Das, was die Regierung „Ausweitung“ des Grünen Passes nennt, soll den Druck auf die noch Unentschlossenen und harten Impfgegner:innen erhöhen. Wenn landesweit 85 Prozent der Menschen geimpft seien, werde man „einen fast normalen Herbst“ erleben, erklärte die Regionalministerin. Selbst Diskotheken könnten dann wieder öffnen.

Der Blick von Nord nach Süd schmerzt in diesen Tagen: Während in Deutschland ein junger Mann erschossen wurde, weil er einen Kunden ermahnte, eine Maske zu tragen, und Coronaleugner Impfwillige bedrohen, kürzlich auch in einer Berliner Schule, ist in Italien die Front der „No-Vax“ – die am Wochenende wieder mehrere tausend Protestierende in Rom und Mailand auf die Plätze brachte – deutlich leiser. Der Flirt der rechten Lega von Matteo Salvini endete während der Abstimmung im Parlament peinlich. Die Hälfte der Lega-Abgeordneten ließ sich nicht sehen, ihr Fraktionschef behauptete allen Ernstes, sie seien krank oder auf Dienstreise gewesen.

Schon beim Rauchverbot war man im Süden einsichtiger als in Deutschland

Natürlich macht auch Italiens Wirtschaft Druck, die die Produktion wieder ganz aufnehmen und die Restaurants wieder voll sehen will. Vor allem aber haben zu viele junge Leute ihre Großeltern sterben sehen, sind zu viele Ärztinnen und Pfleger der Seuche zum Opfer gefallen, als dass man dort auf breiter Front auf die Idee käme, gefährlicher als das Virus sei der Impfstoff. Im traditionell staatsskeptischen und individualistischen Italien beklagen sie sich nicht über eine „Corona-Diktatur“, sondern verlassen sich in beeindruckender Zahl auf ihre Vernunft.

Übrigens nicht zum ersten Mal: Als vor mehr als einem Jahrzehnt in Deutschland ums Rauchverbot in Gaststätten gestritten wurde, stand das Land Kopf, Kneipenkultur und die persönliche Entfaltung waren angeblich existenziell bedroht. Italien hatte das Verbot wenige Jahre zuvor und viel rigoroser verhängt – und es gab darum keine Glaubenskriege, es wurde rasch akzeptiert.

Die Pandemie hat Europa zusammenrücken lassen, besonders handfest über den Aufbauplan, mit dem die Union aus der Krise kommen will. Mehr als 800 Milliarden für Investitionen in eine grüne und digitale Zukunft, von denen etliche an Italien gehen werden. Da wird es wesentlich nicht nur um Vernunft an der Basis der Gesellschaft gehen, sondern auch um die Vernunft der Regierungen. Wird eine künftige deutsche dann die irrationalen Schlachtrufe des Wahlkampfs „Nur keine Verbote!“ umsetzen oder sich was trauen wie die aktuelle römische in der Pandemie? Wir dürfen gespannt sein, in Rom wie in Berlin.

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