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Nadja Tolokonnikowa.
© picture alliance / dpa

Pussy Riot und die Sängerin Nadja Tolokonnikowa: In Putins Reich lebt der Stalinismus fort

60 Jahre nach Stalins Tod zeigt der Fall von Nadja Tolokonnikowa: Die Zeit der Straflager in Russland ist nicht vorbei. Die Pussy-Riot-Aktivistin fragt völlig zu Recht, ab wann die Toleranz des Westens gegenüber Wladimir Putin zur verbrecherischen Beihilfe wird.

Ein Schock. Ein Schrei und Schreckensschreiben aus einer von uns doch vergangen geglaubten Welt.

Nadja Tolokonnikowa, Mitglied der russischen Künstlerinnen- Gruppe Pussy Riot, war 2012 zu zwei Jahren Haft verurteilt worden: wegen einer 42 Sekunden langen, gegen die Machtallianz zwischen Kirche und Staat in Russland gerichteten Protestperformance („Punkgebet“) vorm Altar der Moskauer Erlöser-Kathedrale. Ende September trat sie in einen Hungerstreik und schilderte in einem Brief die Haftbedingungen in dem mordwinischen Frauenstraflager am Ural. Die weiblichen Häftlinge müssten 17 Stunden am Tag arbeiten, es gebe nur drei bis vier Stunden Schlaf, kaum einen freien Tag. Wer sich auflehne, werde malträtiert. Es werde gestorben, vor Entkräftung – oder totgeschlagen.

Kaum wurde der Brief bekannt, war Nada Tolokonnikowa verschwunden. Auch ihre Familie erhielt vier Wochen lang kein Lebenszeichen. Tolokonnikowa ist vor wenigen Tagen 24 Jahre alt geworden, sie hat eine fünfjährige Tochter. Den Wahrheitsgehalt ihres Berichts haben die Behörden nicht dementiert, und die Russisch-Orthodoxe Kirche teilte mit: Ein Straflager ist kein Erholungsheim. Wen „Gott strafe“, der sei „nicht zu beneiden, er verliert die Gesundheit und manchmal das Leben“.

Peter von Becker ist Kulturautor des Tagesspiegels.
Peter von Becker ist Kulturautor des Tagesspiegels.
© Kai-Uwe Heinrich

Nun kommt die Nachricht, Tolokonnikova sei in ein Gefängniskrankenhaus verlegt worden: 4000 km weiter östlich, in einem sibirischen Lager. Und gleichzeitig, das ist ein Zufall, veröffentlicht das in Berlin erscheinende „Philosophie Magazin“ in seinem neuesten Heft einen Briefwechsel zwischen der Gefangenen Nadja T. und dem slowenischen Starphilosophen Slavoj Žižek. Ein publizistischer Coup. Aber auch ziemlich bizarr. Denn beide denken über die Frage nach: „Wie lässt sich der Kapitalismus besiegen?“ Der eine zitiert Hegel und Marx, die andere das Matthäus-Evangelium und Nietzsche – unter ungeheuer verschiedenen Schreibbedingungen.

Nadja, die Protestpunkerin, hat übrigens Philosophie studiert und ist eine mutige, schöne und bewegend kluge Frau. Natürlich ist es leicht, die Aktion der Pussy Riots in der Erlöserkirche nicht ganz überlegt oder gar geschmacklos zu finden. Aber die Wahrheit, sagte der weise Theaterkünstler George Tabori, „ist immer geschmacklos“. Und zur traditionellen Rolle der orthodoxen Kirche in Russland kann man sich in den großen Museen von Moskau und St. Petersburg die Gemälde von Ilja Jefimowitsch Repin anschauen.

Repin spiegelte im 19. Jahrhundert die Seele und Geschichte Russlands – wie Tolstoi oder Dostojewski in der Literatur. Seine Bilder zeigen auch die Porträts der hohen orthodoxen Priester, prassend an den Tafeln der Mächtigen, mit sehr kaltem Blick auf die Armen und Rechtslosen. Oh ja, ein russisches Lager ist kein Erholungsheim.

Im Berliner Literaturhaus ist gerade eine vielgerühmte, in der Tat erschütternde Ausstellung über den Archipel Gulag und den dort zu Stalins Zeiten geschundenen Dichter Warlam Schalamow zu sehen. Was es da weiterzudenken gilt: Es ist nicht alles vorbei.

Stalin starb vor 60 Jahren. Es gab Chruschtschows Enthüllungen, die Mauer und die Sowjetunion sind unter Gorbatschow gefallen. Gerade verkündet Chinas KP, ihre Straflager abzuschaffen oder, was immer das heißt, zu reformieren. Aber in Putins raubtierkapitalistisch autoritärem Reich lebt der Stalinismus zu Teilen fort.

Guantanamo ist gewiss Amerikas Schande. Auch die Hyperspionage der NSA. Aber alle berechtigte Kritik sollte gelegentlich die Relationen wahren, wenn wir uns mit den zwei, drei verbliebenen Weltmächten auseinandersetzen.

Wie etwa sollen deutsche Parlamentarier eine förmliche Anhörung Edward Snowdons in Russland bewerkstelligen? Dort über die USA nachforschen: abhängig von Putins Gnaden, in einem abhörsicheren Raum der deutschen Botschaft, falls diese einen solchen besitzt? Weil die Bundesregierung Schiss hat vor einer offiziellen Einladung Snowdons nach Deutschland und der Zusicherung sicheren Geleits, triumphiert so statt Souveränität windelweiche Peinlichkeit.

Nadja Tolokonnikowa betont im Briefwechsel mit Slavoj Žižek, dass die Zahl der politischen Häftlinge in Russland wachse, und sie fragt, wann die Toleranz gegenüber dem Putin-Regime „zur Kollaboration, zur verbrecherischen Beihilfe“ werde. Sie erwähnt auch die Olympischen Spielen in Sotschi, für die Natur und Menschen weichen mussten. Das wird, angesichts der russischen Schande, die nächste, sehr große Peinlichkeit.

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