Kalte Progression: Heiße Luft
Die große Koalition hat ein großes Problem: vermeintlich zu viel Geld. Aber anstatt einen Neuanfang zu wagen, verheddern sich die Akteure in neuen Widersprüchen und Taktikspielchen.
SPD-Chef Sigmar Gabriel hat die Wahlkampfversprechen seiner Partei kurzerhand kassiert. Die kalte Progression, die insbesondere die normal verdienende Mittelschicht belastet, werde nur abgeschafft, wenn gleichzeitig die Besserverdienenden und Reichen stärker belastet würden. Gegenfinanzierung nennt man das. Folglich scheiterte der Versuch der damaligen schwarz-gelben Koalition, im Bundesrat eine Abschaffung der kalten Progression ohne eine solche Gegenfinanzierung durchzusetzen. Respekt, Herr Gabriel! Das war konsequent, generationengerecht, nachhaltig.
Aus und vorbei! Was damals richtig war, zählt heute nicht mehr. Ohne erkennbaren Grund - denn die Steuereinnahmen sind schon länger ziemlich hoch - ist beim SPD-Chef die Erkenntnis gereift, die Abschaffung der allseits verhassten kalten Progression könne in dieser Legislatur nun doch ohne Steuererhöhungen oder Sozialkürzungen andernorts abgeschafft werden. Und nun? Jetzt drucksen alle herum. Die Union, die genau das damals in Gesetzesform gießen wollte, sieht heute (!) keine finanziellen Spielräume mehr für das von ihr versprochene Vorhaben. Noch am Montag ließ Kanzlerin und CDU-Chefin Angela Merkel die - heiße - Luft aus der Debatte. Und die SPD schiebt die Verantwortung mal schnell dem Finanzminister zu, der nun ein tragfähiges Konzept vorlegen müsse. Wolfgang Schäuble selbst, hatte ja unlängst auch das "Nachdenken" über solche Pläne "für vier Jahre" ausdrücklich nicht verboten.
Was zeigt das? Es zeigt, dass die SPD nach Mindestlohn und Rentenreform nun auch dem Facharbeiter und Angestellten etwas Gutes tun will. Das ist ein großes Wählerpotenzial, von dem die Sozialdemokraten bei der Bundestagswahl 2017 auch irgendwie stärker profitieren möchten als es bisher der Fall war. Dass Unternehmer, Vermögende und überzeugte Marktliberale der SPD zum Wahlsieg verhelfen, glaubt die Partei nach dem Streit um Mindestlohn und Rente mit 63 eh selbst nicht mehr. Und es zeigt auch, dass die Union in einem ausgeglichenen Haushalt das erstrebenswertere und besser zu verkaufende Ziel sieht als in einer langen, detaillierten und anstrengenden Debatte über eine Neuausrichtung der Steuerpolitik - inklusive des Streits über die Abschaffung von direkten und indirekten Subventionen. Der Ärger um die Mehrwertsteuersenkung für die Hoteliers gerät ja nun glücklicherweise gerade in Vergessenheit. Warum also neuen Streit mit Bauherren, Unternehmern oder anderen Subventionsempfängern und Steuerbegünstigten anfangen? Dann lieber doch die schwäbische Hausfrau, die verantwortungsvoll mit ihrem Geld umgeht, mimen.
So werden sich die Sozialdemokraten in den kommenden Wochen mit sich selbst beschäftigen. Die Parteilinke wird auf eine Gegenfinanzierung durch einen erhöhten Spitzensteuersatz pochen, Länderchefs wie Torsten Albig in Schleswig-Holstein und Hannelore Kraft in Nordrhein-Westfalen werden auf die Unmöglichkeit von Steuerausfällen in ihren Länderhaushalten verweisen. Und Parteichef Gabriel wird nach Verbündeten suchen und sie nicht einmal bei der Union finden, die noch vor wenigen Monaten auf seiner jetzt gefundenen Linie lag. Und Schäuble wird als Null-neue-Schulden-Finanzminister in die Geschichtsbücher eingehen.
Derweil beugen sich die Millionen von arbeitenden Menschen in diesem Land frustriert über ihre Gehaltsabrechnung oder ihre Steuererklärung und verstehen nicht, warum es einer großen Koalition in Zeiten wirtschaftlichen Aufschwungs und sprudelnder Steuereinnahmen nicht möglich ist, eine Politik zu betreiben, die zu mehr sozialer und steuerlicher Gerechtigkeit führt. Eine Politik, die transparenter und nachvollziehbarer ist. Eine Politik, die zuerst Ziele definiert und dann nach Umsetzungsmöglichkeiten sucht. Eine Politik, die sich nicht klammheimlich über die kalte Progression kalter Enteignung der Steuerzahler schuldig macht.
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