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Kurz vor dem EU-Gipfel kommende Woche hatte François Hollande alle sozialdemokratischen Staats- und Regierungschefs Europas nach Paris eingeladen. Auch Martin Schulz, der Spitzenkandidat der europäischen Sozialdemokraten, kam. Gemeinsam fordern sie nun eine andere Politik in Europa, eine flexiblere Auslegung der Regeln zum Defizitabbau in ihren Ländern, sie beanspruchen trotz Niederlage den Vizepräsidentenjob der Kommission für einen Sozialdemokraten und die Präsidentschaft des Europäischen Parlaments für Martin Schulz.
© Reuters

Machtkampf um Europa: Es geht um Merkels Defizite

Die Sozialdemokraten Europas wollen Angela Merkel stellen – und ihr endlich einmal eine Niederlage zufügen.

Tag der offenen Tür in Paris. Treffen der Großen, ach was, der kleinen Großen der europäischen Sozialdemokratie. So ganz groß können sie sich immer nur fühlen, wenn sie unter sich sind, die Vertreter dieser politischen Richtung; denn die Wahlergebnisse, die sie in ihren jeweiligen Ländern erreicht haben, sind mäßig. Bis schlecht. Aber darüber wollten sie mal lieber nicht reden, jetzt, da es um Größeres geht.

Jean-Claude Juncker soll EU-Kommissionspräsident werden. Nicht weil die Sozialdemokraten meinen, Juncker, der ehemalige Luxemburger Regierungschef, ein Christsozialer, sei der Beste, den sie kriegen könnten, sondern, weil er gewonnen hat. Wenn man das so nennen kann. Juncker war – ungeliebter – Spitzenkandidat der EVP, der Europäischen Volkspartei, und die hat die meisten Stimmen in den Mitgliedsländern auf sich vereinigt. Aber so ganz falsch lag der britische Premier David Cameron nie mit seiner Einschätzung, die Bürger Europas hätten nicht Juncker gewählt, sie hätten doch gar nicht gewusst, dass er der Spitzenkandidat ist. Vielmehr ist das vollkommen richtig. In Deutschland, nur als ein Beispiel von vielen, wurde die Bundeskanzlerin plakatiert, so als müsste Angela Merkel gewählt werden. Das andere unbekannte Gesicht neben ihr war nicht das von Juncker, sondern von David McAllister, der gescheiterte Ministerpräsident von Niedersachsen, der sogenannte nationale Spitzenkandidat.

Merkel regiert und regiert und regiert

Einerlei, jetzt muss es Juncker werden, weil in diesem Fall Taktik und Strategie geradezu fließend ineinander übergehen. Niemand soll, so lautet die Taktik, die Sozialdemokraten in der Demonstration ihrer Verlässlichkeit übertreffen; und niemand soll, das ist die Strategie, die gemeinsame der linken Europäer, übersehen, wie schwer sich die Konservativen tun, zu ihrem gegebenen Wort zu stehen. Das schwächt auch deren Renommee für kommende nationale Wahlen in allen Ländern, besonders aber – was beileibe kein Nebeneffekt ist – soll es in Deutschland nachhaltig auf die Öffentlichkeit wirken. Wo Merkel regiert und regiert und regiert.

Sollte sie aber irgendwann einmal, aus SPD-Sicht möglichst bald, nicht mehr regieren, wird allen deutlich werden, dass auf sie und ihre Partei kein Verlass ist. Nicht auf eine Merkel, die in wichtigen Fragen schwankt und abwartet, wohin der Wind weht, um in diese Richtung umzufallen; die nicht führt, jedenfalls nie von vorne; die Menschen fallen lässt, wenn es auch nur annähernd unangenehm für sie selbst werden könnte, an ihnen festzuhalten. Und nicht auf die Partei, die CDU, sonst bleibt die womöglich in einer Zeit nach Merkel mit einem anderen Kandidaten oder einer Kandidatin doch an der Macht.

Das ist das strategische Element an der gegenwärtigen Situation, und es beschäftigt neben der deutschen Sozialdemokratie auch deren Freunde und Partner in anderen Ländern, in Frankreich und Italien, aber auch Österreich. Denn Merkel steht für eine Politik, die sie abschaffen wollen, die viel kritisierte „Austeritätspolitik“. Darum die Diskussion um die Defizitkriterien des Stabilitätspakts in Europa: Weil diese Länder es für unmöglich halten, zu investieren und zu sparen und die Kriterien einzuhalten, alles zugleich. Gestützt werden sie, zum Teil mindestens, vom Vizekanzler und SPD-Chef Sigmar Gabriel, und der wiederum hat ein ziemlich gutes Argument, das Merkel schon auch trifft: die Agenda 2010 ihres Amtsvorgängers Gerhard Schröder. Um die durchzusetzen wurde Deutschland zeitweilig auch Defizitsünder, wie Schröder höchstselbst jetzt in einer ungewöhnlichen, offenen Intervention – in der tonangebenden deutschen Wirtschaftszeitung „Handelsblatt“ – noch einmal klarmachte. Das ist für seine Nachfolgerin auch deshalb nicht ganz ohne Bedeutung, weil sie selbst es auch immer wieder gesagt hat, dass Deutschland bis heute von den Agenda-Reformen profitiert.

Gabriel will die große Koalition (noch) nicht gefährden

Aber Gabriel will die große Koalition in Deutschland (noch) nicht gefährden, sondern mit ihr eine große Koalition in Europa zustande bringen. Es geht also gewissermaßen um das Modell Deutschland in zweierlei Hinsicht – keine Aufweichung der Defizitkriterien, das würde Merkel niemals wollen oder gar in den eigenen Reihen durchsetzen, also nur Nachsicht; und dafür Entgegenkommen bei den Personalien und deren Programm im Sinn der europäischen Partner.

So sieht es aus: Ich geb dir Juncker, du gibst mir Schulz (an der Spitze des Europaparlaments) und Frankreich gibt dann Jean-Marc Ayrault, den Ex-Premier, an der Spitze des Rats. Das könnte am Ende auch den Italienern gefallen. Helle Thorning-Schmidt, die Dänin, die Merkel bevorzugt, ist zwar Sozialdemokratin, steht aber für Austeritätspolitik. Und die Sozialdemokraten werden Merkel doch nicht zu einem Sieg verhelfen, wo sie endlich einmal deutlich für alle verlieren soll.

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