Kontrapunkt: Ein Börsencrash geht alle an
Die Staatenlenker geben vor, alles im Griff zu haben. Doch Tatsache ist: Gerüchte lösen Kursstürze von irrationalem Ausmaß aus. Die aktuellen Turbulenzen am Aktienmarkt sollten nicht nur den Börsianern Bauchschmerzen bereiten.
Was ist da eigentlich los? Den zweiten Tag in Folge sacken die Aktienindizes in Europa ab, der deutsche Leitindex Dax verliert nach knapp sechs Prozent am Donnerstag im Handel am Freitag weitere drei Prozent. An den übrigen bedeutenden Handelsplätzen in Europa, den USA und Asien sieht es nicht anders aus.
Kennen Sie schon, werden Sie sagen, war ja schon in der vergangenen Woche so. Täglich grüßt das Murmeltier. Die spinnen, die Börsianer! Die Wirtschaft brummt, wenn auch vielleicht etwas weniger laut, der Aufschwung macht sich endlich auch auf dem Lohnzettel bemerkbar. Also: Was geht es mich an, was die Zocker auf den Finanzmärkten treiben!?
In der Tat mögen die Turbulenzen, die sich in den letzten 14 Tagen in New York, London, Frankfurt oder Tokio abspielen, kaum Auswirkungen auf die Otto-Normal-Verbraucher haben. Wer von ihnen sein Geld an der Börse investiert, tut dies meist in Form von Fonds, die Dank breiter Streuung und langfristiger Nutzung Verluste in Grenzen halten und über die Jahre Rendite bringen.
Ein Teil der derzeitigen Achterbahnfahrt der Kurse hat zudem mit dem modernen Handel zu tun, bei dem Computer bei Erreichen einer Kursuntergrenze automatisch Aktien abstoßen, so genannte Stop-Loss-Verkäufe auslösen.
Doch der Computerhandel allein erklärt nicht die extremen Ausschläge von heute minus fünf Prozent, morgen plus drei, übermorgen minus vier. Diese Ausschläge sind menschengemacht, Zeichen der Verunsicherung von Anlegern, Händlern und Analysten und weniger Zeichen von um sich greifender Zockerei mit undurchsichtigen Finanzprodukten, die die letzte Finanzkrise mit auslöste.
Warum politische Initiativen wie die von Merkel und Sarkozy die Märkte unbeeindruckt lässt, lesen Sie auf Seite 2.
Das ist das, was an den derzeitigen Turbulenzen beunruhigend ist. Den Akteuren auf und neben dem Parkett fehlt es an Vertrauen. Aussagen, wie jüngst von Josef Ackermann im US-Wirtschaftssender CNBC, dass sein Haus niemals Refinanzierungsprobleme gehabt habe, können die Sorge darüber, dass die europäischen Banken in den Strudel der staatlichen Schuldenkrisen auf dem Kontinent hineingezogen werden, nicht mehr auffangen. Die Aktie der einzigen deutschen Großbank mit internationalem Gewicht verliert trotz der klaren Aussage ihres Chefs fünf Prozent.
Lippenbekenntnisse von Staatenlenkern, alles im Griff zu haben, ohne jedoch substanzielle Schritte zu vollziehen, gab es in jüngster Zeit zu viele. Sie haben an den Märkten eine geringe Halbwertzeit. Das zeigt die halbherzige Initiative von Bundeskanzlerin Angela Merkel und Frankreichs Staatspräsident Nicolas Sarkozy zur Bildung einer europäischen Wirtschaftsregierung ebenso wie die Worte von US-Präsident Obama über die Stärke und Erfolgswillen der Amerikaner.
Sie verpuffen nicht ohne Effekt auf den Finanzplätzen, sorgen auch für zeitweilige Erholung. Doch Gerüchte, ob begründet oder unbegründet, über bevorstehende Herabstufung von Staaten oder Berichte über verlangsamtes Wachstum großer Volkswirtschaften, wiegen inzwischen genauso schwer, wie die Aussagen bedeutender Staatsleute, und lösen Kursstürze in irrationalem Rahmen aus.
Diese Tatsache, dass Gerüchte an den Börsen derzeit ein ähnliches Gewicht beigemessen wird wie ihren Aussagen, sollte für die Merkels und Obamas ein Alarmzeichen sein. Ein Alarmzeichen, dass es mit aufmunternden Worten nicht getan ist.
Börsen und ihre Akteure wetten auf die Zukunft. Und die betrifft auch alle, die nicht mit Wertpapieren handeln.
Simon Frost