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Der ehemalige Bundestagspräsident Wolfgang Thierse (SPD) plädiert für die Groko.
© picture alliance / Kay Nietfeld/

Wolfgang Thierse zur Groko: Die SPD braucht mehr Mut und Selbstvertrauen

Neuwahlen riskieren und in die Opposition gehen? Das wäre der falsche Schritt, findet der frühere Bundestagspräsident. Er fordert von seiner SPD weniger Misstrauen gegenüber der Parteiführung. Ein Gastbeitrag.

Die SPD-Parteitagsdelegierten haben am Sonntag eine wahrlich schwierige Entscheidung zu treffen. Dabei geht es nicht um Triumph oder Untergang, aber doch um Wohl und Wehe des Landes und der Partei. Angst oder Trotz helfen bei dieser Entscheidung nicht, sondern der nüchterne Blick auf das in den Sondierungen Erreichte und die möglichen Alternativen.

Gewiss, nicht alle Träume sind erfüllt: Keine Bürgerversicherung, keine Erhöhung des Spitzensteuersatzes, kein Entfallen der sachgrundlosen Befristung von Arbeitsverträgen, zu wenig für soziale Wohnungspolitik und Mietsteigerungs-Begrenzungen. Das tut weh. Aber soll jetzt nach dem Motto verfahren werden: Da wir nicht alles erreicht haben, wollen wir gar nichts erreichen und den Weg zu Neuwahlen und danach in eine ziemlich machtlose Opposition gehen (gegen das dann regierende Triumvirat Dobrindt-Lindner-Spahn)? So nämlich sieht die Alternative aus, nicht eine Minderheitsregierung von CDU/CSU. Warum sollte Merkel das machen, was könnte die SPD dabei überhaupt erreichen? Liebe GenossInnen, hängt bitte keinen gefährlichen Illusionen nach!

Das bisher Erreichte weiter konkrektisieren

Besser ist es, das bisher Erreichte in weiteren Verhandlungen noch zu konkretisieren, zu ergänzen und zu verbessern, um das Ergebnis dieser endgültigen Verhandlungen danach der Partei vorzulegen. Dies jetzt abzulehnen, wäre Misstrauen gegenüber den Mitgliedern, gegenüber der viel beschworenen Basis. Die Mitglieder nämlich sollten erst darüber entscheiden, ob ihnen Reinheit und Klarheit der Partei das Wichtigste ist, oder die – nach einem Wahlergebnis von 20 Prozent – erreichten beachtlichen Ergebnisse bei den Sondierungen: Rückkehr zur paritätischen Finanzierung der Krankenversicherung, Solidarrente als wirksames Instrument gegen Altersarmut, Rechtsanspruch auf die Rückkehr von Teilzeit in Vollzeit, faktische Abschaffung des Kooperationsverbotes in der Bildung und damit die Möglichkeit, massiv in Bildung Schulen und Betreuung zu investieren, Bildungsstandards anzugleichen und für mehr gleiche Bildungschancen zu sorgen.

Und weiter: Deutlich verstärkte Investitionen in die Erneuerung unserer baulichen und verkehrlichen Infrastruktur, in den Netzausbau, in die Bekämpfung von Langzeitarbeitslosigkeit und Kinderarmut, für Polizei und Justiz, finanzielle Entlastung der Kommunen, ein modernes Zuwanderungsrecht und vor allem endlich eine Aufwertung des Pflegeberufs, also mehr Personal, bessere Bezahlung und Tarifbindung. Vor allem aber die Vereinbarung für eine deutliche Trendwende in der Europapolitik, damit Deutschland wieder Motor der europäischen Integration wird. Die längere Beibehaltung des Solis für die oberen zehn Prozent der Einkommensbezieher kompensiert teilweise die fehlende Erhöhung des Spitzensteuersatzes, um diese gerechter an der Finanzierung der gemeinschaftlichen Aufgaben zu beteiligen. Andere positive Ergebnisse ließen sich ergänzen. Ist das alles nichts? Verdient dies alles nur geringschätzige Ablehnung? Ich glaube nicht.

Partei der kleinen Schritte

Die SPD war immer eine Reformpartei, also eine Partei der kleinen Schritte – um der konkreten Verbesserung der Lage, der Menschen Willen. Ohne Kompromisse ging das nie. Allerdings: Nach den bisherigen Groko-Erfahrungen sollte die SPD unbedingt Anstrengungen unternehmen, ihr Profil neu zu schärfen dadurch, dass sie in Korrespondenz und Spannung zur Regierungstätigkeit über den Vier-Jahres-Rhythmus hinaus denkt und diskutiert über die großen Zukunftsherausforderungen wie soziale Sicherheit und Vollbeschäftigung in der digitalen Ökonomie, über Kräfte und Strukturen von Solidarität für eine individualisierte und pluralistisch-widersprüchliche Gesellschaft, über die Gestalt der europäischen Einheit, über ethische Verantwortung angesichts des medizinischen und gentechnischen Fortschritts. Auch eine regierende Partei muss eine diskutierende Partei sein, jedenfalls wenn sie sozialdemokratisch sein will.

Bitte, liebe Genossinnen und Genossen: Weniger Misstrauen gegenüber der Parteiführung und gegenüber der Mitgliederbasis! Und mehr Mut und Selbstvertrauen – auch in einer unbequemen und unbeliebten Koalition.

Wolfgang Thierse

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