Korruption: Die russische Krankheit
Korruption führt zum Niedergang von Putins Scheindemokratie. Ihre Zerstörungskraft macht aber nicht an Landesgrenzen Halt, sondern bedroht auch unsere Demokratie.
Die großen Ideen kommen auf Taubenfüßen daher, bemerkte Nietzsche. Warum sind sie so leise, außer dass sie an unseren Vorurteilen zerren und unsere blinden Flecken deutlich machen? Das trifft jedenfalls für die Wahlen vom 4. Dezember in Russland zu. Die schallende Ohrfeige für die Regierungspartei zeigt den Niedergang einer Scheindemokratie und das Platzen der mit ihr verbundenen Illusionen.
Dabei sollte das Jahr doch mit der Krönung der russischen Nummer 1 abschließen. Sein Stern strahlte hell wie nie. Er hatte die Olympischen Spiele und die Fußballweltmeisterschaft ins Land geholt, zu seinem Geburtstag drängten sich gebührend entlohnte Stars aus Hollywood und aus Frankreich, die Welt des Glamours und der Macht schenkte dem Petro-Zar ihr Lächeln. Die Eröffnung der Erdgasleitung vom Baltikum nach Deutschland im Herbst besiegelte die fast völlige Kontrolle der Energieversorgung in der EU.
Zweiter Coup: Putin erklärte sich zum „Kandidaten“ bei den Präsidentschaftswahlen 2012, mit der sicheren Perspektive, bis 2024 im Kreml zu herrschen und damit den sowjetischen Langzeitrekord einzustellen. Dritter Coup: Der „Konfuzius-Friedenspreis“. Dieser Gegenpreis zum Friedensnobelpreis, vom kommunistischen China als Schlag gegen den weiterhin eingekerkerten echten Nobelpreisträger Liu Xiaobo ausgeheckt, wurde in diesem Jahr dem russischen Freund verliehen. In der Begründung wird er zum Widerstandshelden gegen die westliche Intervention in Libyen gesalbt (sic), zum Meister des Vetos gegen jegliche UN-Sanktion, die seinem Komplizen, dem syrischen Massenmörder Assad, schaden könnte, und last but not least: zum Musterbild des „Antiterrorkampfes“ in seiner postkommunistischen Variante: mehr als 200 000 getötete Tschetschenen bei einer Bevölkerung von nicht einmal einer Million. Unangefochten in Europa, Dauerautokrat in Moskau, Schlächter im Kaukasus, gemeinsam mit den Chinesen Pate aller derzeitigen Despoten weltweit, vom Iran bis Nordkorea – Wladimir Wladimirowitsch sah seine Zukunft ganz in Rosa.
Vor dem Wendepunkt der Wahlen vom 4. Dezember schien das „eurasische“ Projekt des Kreml sich immer wieder durchzusetzen. Gegen die Nato, weiterhin erklärter Feind Nr. 1 des geheiligten Russland, gegen die „Illusion“ der Menschenrechte wirkte der neue „Konfuziusblock“ Peking–Moskau stabil und selbstbewusst. Der Kreml stationierte Raketen an seinen europäischen Grenzen, verleibte sich seine „nächsten Nachbarn“ ein, trug die ukrainische Demokratie zu Grabe und besetzte 20 Prozent des georgischen Territoriums … Angesichts der wirtschaftspolitischen Krise, die den demokratischen Westen heimsucht, wirkt das Modell für die Reichen und Mächtigen der fünf Kontinente durchaus verführerisch. Der Grundsatz der alten Männer des KGB (der sowjetischen Gestapo) schien sich zu bewahrheiten: Das Ende des Sowjetreichs – von Putin als „die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ bezeichnet – stellte nicht das Ende der Geschichte dar, sondern einen reversiblen Zwischenfall. Die „Vertikale der Macht“ à la russe und der „aufgeklärte Despotismus“ chinesischer Bauart schienen den Sieg über das demokratische Tohuwabohu in die Nähe zu rücken. Im Kielwasser der großen Krise von 1929 stürzten die zugleich verfeindeten und verbündeten Polizeistaaten die Welt ins Unglück. Bis repetita non placent.
Bei uns im Westen täuschen sich zahlreiche Experten und Verantwortliche, was die Solidarität, die Stärke, sogar die Klugheit der postsowjetischen und postmaoistischen Autokraten angeht. Hatten wir nicht fast gehofft, sie würden Europa unentgeltlich und aus reinem Wohlwollen retten? Na, hören Sie mal! Die beginnende Panik nach den Revolten des „Arabischen Frühlings“ macht deutlich, dass die „eurasischen“ Potentaten weniger als wir vom Fortbestand ihrer Macht überzeugt sind. Im chinesischen Internet wird jeder Hinweis auf Jasmin geblockt. Warum? Tunis ist nicht Peking, das kleine Tunesien nicht das riesige China! Die gleiche Verunsicherung in Moskau, wo der kleinste Affront – Putin im Boxring von der Menge ausgepfiffen – den Weltuntergang heraufbeschwört und sofort zu doppelt scharfen Zensurmaßnahmen führt.
Trotz gesperrter sozialer Netze und gestörter Bloggerszene, trotz der Hackerangriffe auf unabhängige Seiten, Einheitsfernsehen, trotz schon vor der Wahl gefüllten Urnen, gefälschten Wählerlisten, intensiven Einschüchterungen, trotz der Weisung an die Gouverneure, um jeden Preis 65 Prozent „korrekte“ Stimmen zu bekommen – trotz alledem sieht die Regierungspartei „Einiges Russland“ sich zur „Partei der Diebe und Betrüger“ degradiert.
Den Russen könnte nicht deutlicher gezeigt werden, dass ihr Staat unehrlich (Betrüger) und gesetzlos (Diebe) ist. Sie wissen es, sie leben damit. Wem will man weismachen, dass 99,48 Prozent der Tschetschenen „frei“ für ihre Mörder gestimmt hätten?
Die Korruption beherrscht alles, von ganz oben bis ganz unten; auf der von Transparency International aufgestellten Skala drückt sie das große Russland auf den Stand Somalias, noch hinter Zimbabwe. Für das Jahr 2011 wird das Korruptionsgeld auf 300 Milliarden Dollar geschätzt (30 Milliarden in den Vorjahren), die Taschen der Würdenträger sind bodenlos. Zehn Jahre Putin, zehn Jahre servile Schmarotzer haben die Diagnose Michail Chodorkowskijs bestätigt. Der einstige Oligarch ist heute politischer Häftling ad infinitum, weil er entdeckt hat, dass der Zar nackt, unfähig, verkommen war. Was sagt er? Dass die globalisierte Korruption gefährlicher ist als die Atomkraft.
Das ungeheure Manna aus Öl und Gas hat die Industrialisierung Russlands nicht vorangetrieben. Nachdem der Konsum der urbanen Mittelschicht notdürftig befriedigt ist, werden die riesigen Vermögen jenseits der Grenzen investiert. Als würden 50 Prozent der Bevölkerung aus nutzlosen Essern bestehen, sie sind Elend und großer Not ausgeliefert, verdammt zu Alkoholismus, Prostitution, Krankheiten, allen voran Tuberkulose und Aids, die aus Geldmangel nicht behandelt werden.
Wohin geht der sagenhafte Schatz, der nicht in Russland investiert wird? Er kommt zu uns. In den Händen der Despoten und der Oligarchen in ihrem Gefolge liegt eine ungeheure schädliche Kraft. Die Korruption ist eine ansteckende Krankheit, der Putinismus eine grenzüberschreitende Seuche. Wir müssen der russischen Krankheit ins Auge schauen, schließlich geht es um unsere Zukunft. Nur die Freiheit zu zweifeln und zu kritisieren, nur die Möglichkeit, sich zu informieren und die eigene Meinung zu äußern, können der Zerstörungskraft der postmodernen Korruption Grenzen setzen. Im 20. Jahrhundert ging es um die Frage: Totalitarismus oder Demokratie. Die Frage unserer Zeit lautet: Demokratie oder Korruption. Die Russen stellen sie allmählich. Wir müssen sie hören.
André Glucksmann