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Erster Weltkrieg - deutsche Truppen an der Ostfront
© dpa

100 Jahre Erster Weltkrieg: Die missverstandene Vaterlandsliebe der SPD

Die SPD im Reichstag wusste, wohin der Weg ging. Trotzdem stimmte sie am 4. August 1914 den Kriegskrediten zu. Hätte sie, wenn sie anders gehandelt hätte, die moralische Kraft für die Zeit nach 1918 gehabt? Ein Kommentar.

Eine Woche nur dauerte es, um aus der Kriegserklärung der Donaumonarchie an Serbien vom 28. Juli 1914 einen Weltkrieg entstehen zu lassen, jenen Ersten Weltkrieg, er zudem den Keim zum zweiten barg. Eine einzige Woche, an deren Ende mit der einmütigen Bewilligung der Kriegskredite durch den Reichstag auch der letzte Damm brach, der auf deutscher Seite das besinnungslose Hineinspringen in den Krieg noch hätte aufhalten können. Und unter den Ja-Stimmen waren diejenigen der SPD, deren Vorsitzender Hugo Haase betonte, „Wir lassen in der Stunde der Gefahr das eigene Vaterland nicht im Stich“. Weniger bekannt, aber beinahe noch verhängnisvoller war, dass der Reichstag zugleich auf jegliche Neuwahlen für die Dauer des Krieges verzichtete und so die schleichende Erosion seiner Legitimität bewirkte.

Auch ohne die SPD wären die Kriegskredite bewilligt worden

Auch ohne die SPD, die seit den Reichstagswahlen von 1912 die stärkste Fraktion stellte, wären die Kriegskredite bewilligt worden, und dass sich auch nur ein einziger Vertreter der bürgerlichen Mitte oder gar der junkerlichen Rechte gegen den Krieg ausgesprochen hätte, war undenkbar, so erfolgreich, wie die Propaganda zumal während der Julikrise gewirkt hatte. Und hatte nicht Kaiser Wilhelm II. nur Stunden zuvor an ebendiesem Tag nach der deutschen Kriegserklärung an Frankreich gejubelt, er „kenne keine Parteien mehr“, sondern „nur noch Deutsche“? Aus dieser Umarmung, die politisch gesehen vollständig folgenlos blieb und auch nicht die kleinste Forderung der Sozialdemokraten zu erfüllen versprach, schon gar nicht die Abschaffung des elenden preußischen Dreiklassenwahlrechts,  aus dieser Umarmung hat sich die Sozialdemokratie anschließend nicht mehr befreien können.

Das ist das Verhängnis dieser missverstandenen Vaterlandsliebe des 4. August ’14: dass es nach vier Jahren mörderischen Kriegsgeschehens die Demokraten waren, die zur Vernunft gekommenen Bürgerlichen eingeschlossen, die in Versailles die Suppe auslöffeln mussten, die das Militär unter Ludendorff ihnen eingebrockt hatte. Fortan haftete ihnen das  Schimpfwort des „Dolchstoßes“ an, unter dem sie nie wieder zum aufrechten Gang zurückfanden. Hitlers Aufstieg, ohne ihn darauf kausal zurückzuführen, nahm seinen Anfang an jenem 4. August – am Tag der Selbstpreisgabe der Sozialdemokratie.

Denn gewusst hatte es die SPD schon, wohin der Weg ging. Noch 1912 war sich die Linke ganz Europas auf dem Friedenskongress zu Basel darin einig gewesen, den Krieg unter allen Umständen zu verhindern, und noch ganz am Ende der Julikrise von 1914 waren hunderttausend Menschen durch Berlin gezogen, um gegen den allseits herbeigeredeten und –gesehnten Krieg zu demonstrieren. Am 4. August schlug die historische Stunde, die die SPD in patriotischer Aufwallung verpasste, und aus der sie, hätte sie sich dem Krieg verweigert, die moralische Kraft für die schweren Zeiten nach 1918, vor allem aber ab 1930 hätte ziehen können.

Das Gift des Nationalismus zeigte seine verheerende Wirkung

Der britische Historiker Christopher Clark hat die Machthaber Europas in seinem epochalen Buch gleichen Titels als „Schlafwandler“ charakterisiert, die unbedarft in einen Krieg hineinsteuerten, den sie nicht wirklich wollten, aber eben auch nicht verhindert hatten. Doch nicht alle waren Schlafwandler. In diesen Tagen, da in ganz Europa der 100. Wiederkehr des Kriegsbeginns gedacht wird, muss an die machtvolle Opposition der sozialistischen Linken ganz Europas gegen die zunehmend provokative Beschwörung der Kriegsgefahr erinnert werden, gegen den „imperialistischen Raubkrieg“, wie er genannt wurde. Das war er zwar allenfalls zu Teil; der mächtigere Antrieb kam aus dem verqueren „Ehrgefühl“, das selbst kluge Geister wie den scharfzüngigen Soziologen Max Weber benebelte. Das Gift des Nationalismus, seit der Niederwerfung Napoleons in immer höheren Dosen ausgestreut, zeigte seine verheerende Wirkung. Und war, trotz den 17 Millionen Kriegstoten, auch 1918 noch nicht gewichen.

An diesem 4. August vor einhundert Jahren wurde die letzte Chance vertan, auf deutscher Seite ein Signal gegen den Krieg zu setzen. Ein Signal, das in den anderen großen Industriestaaten Europas, in Frankreich und Großbritannien womöglich gehört worden wäre. Stattdessen gingen die Völker sehenden Auges in den Krieg. Ein trauriger Gedenktag ist das, ein im wahrsten Wortsinn todtrauriger.

Bernhard Schulz

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