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Max Weber, der große deutsche Soziologe.
© promo

Max Weber und der erste Weltkrieg: Das Wesen der Vernunft

Am heutigen Ostermontag wäre der Universalgelehrte Max Weber 150 Jahre alt geworden. Der Erste Weltkrieg prägte sein Verständnis von Politik – tragisch ist es, dass er auf so wenig Resonanz stieß.

Kaum war der Erste Weltkrieg ausgebrochen, geriet das Deutsche Reich in die Defensive. Zumal auf dem Feld der Propaganda. Die Untaten in Belgien ließen die deutsche Kriegsführung in eine Ecke geraten, aus der sie nie mehr herausfand: die der Barbaren, der „Hunnen“, wie die britische Propaganda die Deutschen einprägsam kennzeichnete. Deutsche Professoren fühlten sich bemüßigt, die Verteidigung deutscher „Kultur“ gegen die bloße „Zivilisation“ Englands als Kriegsgrund auszurufen.

Einer, von dem die Zeitgenossen die Unterschrift unter den „Aufruf an die Kulturwelt“ vom September 1914 und die nachfolgende „Erklärung der Hochschullehrer des Deutschen Reiches“ nicht überraschend gefunden hätten, verweigerte sich der kollektiven Gefühlsaufwallung: Max Weber. Der Professor im vorzeitigen Ruhestand, gleichwohl in Heidelberg einen geistigen Mittelpunkt bildend, der berühmte Autor bahnbrechender Aufsätze zur von ihm wesentlich mitgeformten Soziologie, hielt sich bedeckt. Dabei hatte sich der Reserveleutnant sofort zum Kriegsdienst gemeldet und war furchtbar unglücklich, ob seines Alters – er hatte am 21. April den 50. Geburtstag gefeiert – nicht an die Front geschickt zu werden, sondern sich stattdessen um das Lazarettwesen an seinem Wohnort kümmern zu müssen.

Weber verhielt sich zum Krieg ambivalent

Weber verhielt sich zum Krieg höchst ambivalent. Einerseits schwieg er, und er schwieg beredt, während andere Professoren um so eifriger schwadronierten. Andererseits äußerte er sich brieflich stets als Patriot, nannte den Krieg „groß und wunderbar“ und kondolierte seinem Verleger zum frühen Tod dessen Sohnes mit entsprechenden Worten. Weber befand sich in einer Zwickmühle. Denn er, der Erforscher der abendländischen Rationalität, der die Werturteilsfreiheit als Voraussetzung wissenschaftlicher Arbeit verfocht, konnte seine eigene Wertorientierung nur als reine Willensentscheidung vertreten, im Sinne des „Polytheismus der Werte“, den er im Gegeneinander unterschiedlicher „Wertsphären“ des menschlichen Daseins akzeptierte. Für ihn gipfelte die politische Einstellung im obersten, unhinterfragbaren Wert der Nation. Weber war zweifellos nicht lediglich Patriot, sondern Nationalist.

Das könnte heute allenfalls noch als historische Marginalie interessieren. Ein Heidelberger Gelehrter, der der deutschen Nation – für Weber stets in der Gestalt des Bismarck-Reiches – huldigt und den Krieg bejaht, wäre nicht mehr als eine zeittypische Erscheinung. Doch Weber war gerade kein typischer Professor der wilhelminischen Epoche. Er revolutionierte die Wissenschaft, schroff und rücksichtslos wie sein ganzer Charakter. Wie kein Zweiter hat er, dessen 150. Geburtstag am morgigen Ostermontag begangen wird, die Entwicklung der „okzidentalen Rationalität“ beschrieben. Er hat ihre welthistorische Einzigartigkeit herausgearbeitet und die Bedingungen benannt, unter denen sich der moderne Kapitalismus als dessen höchste, alle Lebenssphären durchdringende Ausprägung entfalten konnte. Für den „Geist des Kapitalismus“ hat er die „protestantische Ethik“ herangezogen. Das ist die These, mit der Weber zuallererst berühmt wurde.

Er schrieb vom Fachmenschen ohne Geist

Für ihn bezeichnete der Kapitalismus zugleich das „stahlharte Gehäuse der Hörigkeit“, das eine düstere Zukunft ankündigte. „Niemand weiß noch, wer künftig in jenem Gehäuse wohnen wird“, schreibt Weber 1904 am Schluss seines buchlangen Aufsatzes zur „Protestantischen Ethik“ – „und ob am Ende dieser ungeheuren Entwicklung ganz neue Propheten oder eine mächtige Wiedergeburt alter Gedanken und Ideale stehen werden, oder aber – wenn keins von beiden – mechanisierte Versteinerung, mit einer Art von krampfhaftem Sich-wichtig-Nehmen verbrämt. Dann allerdings könnte für die ,letzten Menschen‘ dieser Kulturentwicklung das Wort zur Wahrheit werden: ,Fachmenschen ohne Geist, Genussmenschen ohne Herz: dies Nichts bildet sich ein, eine nie vorher erreichte Stufe des Menschentums erstiegen zu haben.‘“

Es zählt zu Webers Tragik, dass seine Aufsätze nur in Fachzeitschriften erschienen

Max Weber, der große deutsche Soziologe.
Max Weber, der große deutsche Soziologe.
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Der Krieg nun stellte die welthistorischen Überlegungen auf die Probe des Hier und Jetzt. Im Herbst 1914 beklagt er die „entsetzliche Unfähigkeit unserer Diplomatie“. An sie glaubt er dennoch und verkennt, dass eben die tradierte Geheimdiplomatie den Krieg hat ausbrechen lassen und zugleich durch ihn von der politischen Bühne gefegt worden ist. Insofern bewegen sich Webers Bemühungen, der im Laufe des Jahres 1915 zum politischen Publizisten wird, in herkömmlichen Bahnen: Briefe, Denkschriften, am Ende – 1918 – gar die Beteiligung an der deutschen Verhandlungsdelegation für Versailles.

1895, in seiner Antrittsvorlesung unter dem Titel „Der Nationalstaat und die Volkswirtschaftspolitik“ in Freiburg, sprach Weber Sätze, die das wilhelminische Reich aufhorchen ließen: „Wir müssen begreifen“, führte der gerade einmal 31-jährige Professor für Nationalökonomie aus, „dass die Einigung Deutschlands ein Jugendstreich war, den die Nation auf ihre alten Tage beging und seiner Kostspieligkeit halber besser unterlassen hätte, wenn sie der Abschluss und nicht der Ausgangspunkt einer deutschen Weltmachtpolitik sein sollte“. 1895 dachte Weber an Kolonialpolitik, nicht an einen europäischen Krieg; er wäre ihm, wie den meisten gebildeten Zeitgenossen, als gegen alle Rationalität erschienen, die er im entwickelten Kapitalismus der Industrienationen auf ihrer historisch höchsten Stufe angekommen sah. Gleichwohl predigte er stets in bester sozialdarwinistischer Manier „den Kampf ums Dasein, den Kampf des Menschen mit dem Menschen“ als Naturgesetz, „möge die Wirtschaftsverfassung der Erde sein, welche sie will“, wie er ausgerechnet dem „Evangelisch-Sozialen Kongress“ von 1897 entgegenschleuderte.

Weber sah in Russland die Hauptbedrohung

Im Krieg sah Weber das zaristische Russland als Hauptbedrohung an. Den Blankoscheck, den die deutsche Regierung dem befreundeten Österreich-Ungarn für Maßnahmen gegen Serbien ausgestellt hatte und der lange Zeit fälschlich als auslösendes Moment des Weltkriegs angesehen wurde, rechtfertigt er 1916 mit den Worten: „Wir hatten nur die Wahl, im letzten möglichen Augenblick vor seiner (gemeint: Österreichs) Zerstörung dem Rad in die Speichen zu fallen oder ihr zuzusehen und es nach einigen Jahren über uns selbst hinweggehen zu lassen. Gelingt es nicht, den russischen Expansionsdrang wieder anderswohin abzulenken, so bleibt es auch künftig dabei.“ Mittlerweile war sein jüngerer Bruder Karl an der Ostfront gefallen.

Diesen Ton hatten schon Marx und Engels angeschlagen, und er prägte die Haltung der deutschen Sozialdemokratie. Das zaristische Regime galt, mit den Worten des SPD-Vorsitzenden August Bebel, als „Feind aller Kultur und aller Unterdrückten“. Weber allerdings besaß präzise Kenntnisse. Er hatte Russisch gelernt, um den Ereignissen der gescheiterten Revolution von 1905 folgen zu können, und er hatte darüber unter dem Titel „Russlands Übergang zum Scheinkonstitutionalismus“ geschrieben. Mit „Scheinkonstitutionalismus“ zielte er auf die halbherzigen Reformen, so wie er später ähnliche deutsche Vorhaben als „Scheinparlamentarisierung“ brandmarkte.

Es zählt zu Webers Tragik, dass seine Aufsätze nur in Fachzeitschriften erschienen, und wo sie, wie die Beiträge für die „Frankfurter Zeitung“, für ein breiteres Bildungsbürgertum gedacht waren, griff die Militärzensur ein. So erging es dem Aufsatz „Zur Frage des Friedenschließens“ von 1916, der erst posthum veröffentlicht wurde. Darin benennt Weber unmissverständlich die selbst geschaffenen Dilemmata der deutschen Politik. „Weltpolitik ist für uns nicht zu führen“, kassiert Weber gleich zu Beginn seine hochfahrende Position von Freiburg. Durch die Annexion Elsass- Lothringens 1870/71 – er nennt sie ausdrücklich so – sei Deutschland „weltpolitisch vollkommen gelähmt und sowohl Russland wie England gegenüber zur Ohnmacht verurteilt worden“. Und wieder ist Russland die unausweichliche Gefahr: „England kann unseren Handel abschneiden (…), Frankreich könnte uns im Fall eines Sieges eine Provinz abnehmen. Keine der beiden Mächte und auch nicht beide zusammen könnten jemals unsere Existenz als Nation und Großmacht wirklich dauernd vernichten. Die einzige Macht, von der uns etwas Derartiges drohen kann, ist aus geographischen und nationalpolitischen Gründen Russland.“

Er zeichnete ein düsteres Bild vom Kriegseintritt der USA

Und nicht nur die Westmächte sowie Russland waren aufgrund der Fehlkonstruktionen des Bismarck-Reiches bleibende Gegner. Hinzu kamen die USA, die die deutsche Heeresleitung ins gegnerische Lager trieb, noch bevor sie mit der Erklärung des unbeschränkten U-Boot-Kriegs den Kriegseintritt Amerikas provozierte. „Unglaublich der Optimismus der Militärs und Politiker bezüglich eines Kriegs mit Amerika“, schrieb er 1916 an seine Frau. Beide kannten die Vereinigten Staaten von ihrer ausgedehnten Rundreise im Jahr 1904 und hatten staunend das schier unbegrenzte ökonomische Potenzial des Landes gesehen. In seiner Denkschrift von Anfang 1916 „Der verschärfte U-Boot-Krieg“, die immerhin Reichskanzler Bethmann Hollweg erreichte, zeichnet Weber ein düsteres Bild vom Kriegseintritt der USA. Neben der drohenden Niederlage im Krieg würden „die denkbar schwerste wirtschaftliche Depression und bisher unbekannte soziale Spannungen gefährlichster Art uns sicher sein“. Kurzum, die Entfesselung des U-Boot-Kriegs wäre „Abenteuerpolitik“. Bezeichnend für Weber und die von ihm immer wieder bemühte Vernunft ist die Betonung einer „ganz nüchternen Berechnung“, als ob der Ausgang des Krieges davon abhinge, ob jeder „Rechnungsfaktor“ berücksichtigt wird.

Mit der Politik nach Kriegsende hatte Weber nur noch am Rande zu tun

Max Weber, der große deutsche Soziologe.
Max Weber, der große deutsche Soziologe.
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Webers Artikel zu aktuellen Fragen der Politik wurden jetzt immer häufiger. Als 1917 in Deutschland über eine parlamentarische Kontrolle der mittlerweile völlig vom Militär diktierten Außenpolitik debattiert wurde, fasste Weber seine Zeitungsartikel zu einer erst im Frühjahr 1918 von der Zensur freigegebenen Broschüre zusammen, die ihn zu einem führenden Politiker der Nachkriegszeit prädestiniert hätte: „Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland“. Der Untertitel „Zur politischen Kritik des Beamtentums und Parteiwesens“ zeigt, dass Weber auf ein Parlament zielt, das nicht von Beamten dominiert wird, sondern zum einen zur Auslese der politischen Führer führt, zum anderen die Regierung kontrolliert. Deutschland hatte genügend Erfahrung mit dem Dahinreden des Kaisers sammeln müssen, den Weber als „Fatzke“ verachtete – freilich ohne die Staatsform Monarchie als solche abzulehnen.

Für ihn war Charisma die schillerndste Kategorie in seiner Soziologie der Herrschaft

Zur Auslese gelangt nur, wer über Charisma verfügt: dies die schillerndste Kategorie in Webers Soziologie der Herrschaft. Charisma als Befähigung, verkrustete Strukturen aufzubrechen und eine dem Räderwerk der Bürokratie entgegengesetzte Form von legitimer Herrschaft zu schaffen, schien Weber ein Ausweg aus dem Dilemma des modernen Staates. Denn „jede Herrschaft äußert sich und funktioniert als Verwaltung“, hatte er unter dem Eindruck des preußischen Beamtenwesens in seinem Fragment gebliebenen Hauptwerk „Wirtschaft und Gesellschaft“ definiert.

Bernhard Schulz ist Redakteur des Tagesspiegels.
Bernhard Schulz ist Redakteur des Tagesspiegels.
© Tsp

Die Kategorie des charismatischen Führers ist des Öfteren als theoretische Vorab-Rechtfertigung Hitlers gesehen worden. Für Weber jedoch bedeutete „charismatische Herrschaft“ die „Chance“, aus dem „Gehäuse der Hörigkeit“ auszubrechen. Ihn bewegte die Frage, wie eine menschliche, selbstbestimmte Existenz im „Getriebe jenes liebeleeren und erbarmungsfremden ökonomischen Kampfs ums Dasein“ künftig noch möglich sein würde.

Mit der Politik nach Kriegsende hatte Max Weber nur mehr am Rande zu tun. Viel zu früh starb er, 56-jährig, am 14. Juni 1920.

Als er bei der Kandidatenaufstellung zum Reichstag durchfällt, verlässt er die Partei wieder, der er Ende 1918 beigetreten war, und damit die praktische Politik überhaupt. Pikiert schreibt er: „Der Politiker soll und muß Kompromisse schließen. Ich aber bin von Beruf: Gelehrter.“ Kompromisse hat Weber nie schließen mögen. Gelehrter war er durch und durch, aber mit einem nach politischer Wirkung lechzenden Feuerkopf. Dass er damit keine Resonanz fand, gehört zur Tragik der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts.

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