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In den Kinderläden der 70er Jahre wurde antiautoritär erzogen. Hier ein Bild aus Bochum aus dem Jahr 1971. Erwachsene nutzten die Ideologie der Regelfreiheit, um pädophile Neigungen auszuleben.
© p-a

Pädophilie-Debatte bei den Grünen: Die Herrschaft der linken Häuptlinge

Grüne Politiker wie Daniel Cohn-Bendit haben sich an der ideologischen Verbrämung der Pädophilie beteiligt. Ihre „Freiheit“ war die Freiheit der linken 68er-Häuptlinge. Die gingen mit Schwachen um, wie es ihnen beliebte.

Vor einigen Tagen starb der Aktionskünstler Otto Mühl. Er war ein leidenschaftlicher Gegner der bürgerlichen Kleinfamilie und der Religion. Das, was er als Alternative anzubieten hatte, war die Diktatur des Menschen Otto Mühl. Mit seinen Anhängern lebte er in einer Kunstkommune, einer Art Urhorde mit angeblich freier Sexualität, worunter vor allem zu verstehen war, dass Mühl Zugriff auf jedes ihm interessant erscheinende Geschlechtsteil hatte, einschließlich der Kinder. Latzhosen und geschorene Köpfe waren im Hause Mühl Vorschrift. 1991 wurde Mühl wegen Kindesmissbrauchs und der Verabreichung von Drogen an Kinder zu sieben Jahren Haft verurteilt. Auch er hat dann später bereut und sich entschuldigt, unter anderem sagte er dabei über seine Opfer den Satz: „Ich wollte sie befreien.“

In der Diskussion über Pädophilie, die sich an grünen Politikern wie Daniel Cohn-Bendit und jetzt auch Volker Beck entzündet hat, ist „Freiheit“ das Schlüsselwort. Das, was heute gern „sexuelle Revolution“ genannt wird, hat in den 50er Jahren mit dem Kinsey-Report angefangen, später war die „Sexuelle Befreiung“ eines der Anliegen der Achtundsechziger-Generation. Im Kern ging es darum, die gesellschaftlichen Normen, die mehr als ein Jahrhundert lang nur die heterosexuelle, monogame Ehe als legitimen Schauplatz für alles Sexuelle zugelassen hatten, dem tatsächlichen Verhalten der Menschen anzupassen. Sexualität und Lust sollten nicht mehr als etwas irgendwie Schmutziges angesehen werden, etwas, das zum Zweck der Vermehrung in Kauf genommen werden muss, sondern als etwas Gutes, Menschliches, dessen sich niemand zu schämen hat und das in mehr als nur einer Spielart zulässig ist.

Wer zweifelt heute noch daran, dass dieses Anliegen richtig war? Vielleicht die CSU, sonst kaum jemand. Deren Generalsekretär Alexander Dobrindt versucht, die Grünen als eine Art Pädophilen-Partei darzustellen. Wer glaubt, mithilfe mehr als 30 Jahre zurückliegender verbaler Verfehlungen heute Wahlkampf machen zu dürfen, hat ein Rad ab. Die CSU, die Alkohol-am-Steuer-Partei, die deutsche Affären-, Selbstbedienungs- und Schwarzgeldpartei Nummer eins, die Anti-Homosexuellen-Partei CSU sitzt im Glashaus. Wenn sie mit Steinen wirft, macht sie sich lächerlich.

Freiheit aber hat ihre Grenzen immer an den berechtigten Interessen und der Freiheit des Mitmenschen zu finden. Regeln behindern nicht nur die Entfaltung des Individuums. Regeln schützen auch die Schwachen vor den Starken. Das Tabu „Pädophilie“ ist nicht selbstverständlich, es gab Gesellschaften, denen es unbekannt war. Das Tabu hat sich bei uns gehalten, anders als andere Tabus, weil sich die Meinung durchgesetzt hat, dass es eine freie Sexualität nur zwischen Freien geben kann. Sex ist gut, aber dieser Satz gilt nicht für Zwangsprostitution, nicht für übergriffige Chefs und nicht für Pädophilie.

Zu den typischen Erscheinungen der 60er und 70er Jahre gehörte der linke Häuptling

Zu den typischen Erscheinungen der 60er und 70er Jahre gehörte der linke Häuptling. Der Häuptling hatte sich in seiner Gruppe kraft seines Charismas als Führungsfigur durchgesetzt, oft auf informellem Weg, das heißt, ohne ein offizielles Amt, das ihn an Regeln gebunden hätte. Der Häuptling regierte eine WG, eine K-Gruppe, eine Künstlerkommune oder eine Sekte. Der Häuptling nahm sich, was er wollte, auch sexuell. Das wurde denen, die genommen wurden, als „Befreiung“ verkauft, manchmal traf das vielleicht sogar zu, manchmal aber auch nicht. Herrschaftsverhältnisse wurden mit einer verlogenen Befreiungsideologie verbrämt. Niemand hat diese Verhältnisse besser beschrieben als der französische Autor Michel Houllebecq in seinen Romanen.

Auch in den Kinderläden und in der Pädagogik fanden die Häuptlinge ein Feld für ihre ganz persönliche Befreiung von allen gesellschaftlichen Zwängen. Zum Beispiel in der Odenwaldschule. In der Odenwaldschule hieß der Häuptling Gerold Becker.

Es geht dabei, obwohl es oft gesagt wird, nicht in erster Linie um Pädophilie, sondern um Machtmissbrauch. Pädophilie wird heute als eine psychische Störung angesehen. Der Betroffene – nicht immer, aber meistens sind es Männer – ist dieser Störung ausgeliefert, sie lässt sich, nach heutigem Kenntnisstand, kaum reparieren oder rückgängig machen. Es gibt Männer, die ihrem Trieb, der sie zu Kindern zieht, ihr Leben lang mit großem Kraftaufwand und therapeutischer Hilfe widerstehen. Sie verdienen Respekt.

Pädophilie gibt es in einer homosexuellen, einer heterosexuellen und einer bisexuellen Variante. Etwas mehr als 50 Prozent der Opfer sind Jungen. Naturgemäß sind die Grenzen zwischen der Pädophilie und einer Vorliebe für junge Partner fließend. Nach der offiziellen Definition ist der Pädophile mindestens 16 Jahre alt, sein Opfer ist mindestens fünf Jahre jünger.

Praktizierende Pädophile berufen sich darauf, keine Gewalt und keinen Zwang anzuwenden. Außerdem besäßen auch Kinder sexuelle Bedürfnisse. Letzteres trifft zu. Über das, was in solchen Fällen geschieht, hat der Schriftsteller Bodo Kirchhoff einmal mit bemerkenswerter Offenheit gesprochen. Kirchhoff wurde als Kind missbraucht, von einem Lehrer. Er habe den Lehrer in gewisser Weise sogar ermutigt, als er dessen Interesse bemerkte, er habe sich geschmeichelt gefühlt und sei neugierig gewesen. Diese Tatsache habe die spätere Beschädigung durch den Missbrauch eher größer gemacht, durch Schuldgefühle und Scham. Der Täter hatte seinem Opfer ein bleibendes Gefühl der Mittäterschaft aufgeladen.

Nur sehr wenige Männer sind wirklich pädophil, wahrscheinlich weniger als ein Prozent. Aber in Tests hat sich herausgestellt, dass etwa 25 Prozent der Männer Bilder von Kindern zumindest manchmal erregend finden. Diese Männer haben Sex mit erwachsenen Partnern, diesen Sex finden sie durchaus befriedigend, die weitaus meisten von ihnen werden sich niemals einem Kind nähern. Sie haben ja die Wahl, anders als der echte, der sogenannte primäre Pädophile.

Der übergriffige Reformpädagoge ist im Regelfall kein von dunklem Begehren Getriebener.

Der übergriffige Reformpädagoge ist im Regelfall kein von dunklem Begehren Getriebener. Er könnte auch anders, ohne große Mühe. Er nutzt eine Gelegenheit, die sich bietet, er nutzt seine Macht. Aber er deklariert seine private Selbstverwirklichung zu einem Akt der Befreiung, einer geradezu moralischen Tat, die auch zum Besten des Opfers sei. Freie Bahn der kindlichen Sexualität! Der Häuptling fühlt sich gut. Er lebt in einer Kultur der Rücksichtslosigkeit, er lebt seinen Egotrip und deklariert seine Triebabfuhr zum emanzipativen Akt im Dienste der Menschheit.

Das ist der Unterschied zwischen den Missbrauchsfällen in der Kirche und den Missbrauchsfällen in der Odenwaldschule, Letztere waren ideologisch unterfüttert. Für die Opfer macht das vermutlich keinen Unterschied. Allerdings hat sich bis heute kein Kirchenfürst gefunden, der die Tat Kindesmissbrauch als gottgefällig verteidigt hätte. Aber über Daniel Cohn-Bendit, 68, hat der Kolumnist Jakob Augstein geschrieben: „Der alte Mann sieht sich zur Rechenschaft gezwungen. Das ist ein trauriges Bild. Man wünscht ihm den Mut, einfach zu sagen: Ihr könnt mich mal.“ Man muss sich eine Sekunde lang vorstellen, etwas Ähnliches hätte ein Kardinal über die einstigen Verhältnisse am Canisius-Kolleg gesagt: Ihr könnt uns mal. Noch einmal Augstein. „Ein kleiner Hinweis an die Spießer von heute: Eine Revolution ohne Exzesse gibt es nicht.“

Wenn es um die Revolution geht, ist offenbar immer noch kein Preis zu hoch. Und wenn ein paar Kinder daran kaputtgehen, muss man schon ein Spießer sein, um das bemerkenswert zu finden. Hier weht die eisige Luft einer Parteilichkeit, die im Dienste der humanen Gesellschaft von morgen die Humanität von heute für eine Nebensächlichkeit hält.

Cohn-Bendit hat, soweit man heute weiß, keine Kinder missbraucht. Es haben sich keine Opfer gemeldet. Er hat in einem, vielleicht fiktiven, Buch über Kindesmissbrauch fantasiert. Literatur darf das. „Der große Basar“ sollte allerdings keine Literatur sein, sondern ein „Manifest gegen die bürgerliche Gesellschaft“. Dabei hat er das gleiche Entschuldigungsmuster verwendet, das Vergewaltiger oft benutzen. Die Kinder wollen es doch auch. Er hat vielfach und durchaus glaubwürdig sein Bedauern ausgedrückt. Entgleisungen oder Verfehlungen müssen natürlich irgendwann auch mal vergeben werden, nicht nur, wenn es sich um die Bigotterie eines CSU-Vorsitzenden handelt oder um die Steuerhinterziehung eines verstorbenen FDP-Vorsitzenden. Der grüne Politiker Volker Beck will den Text, in dem er vor vielen Jahren eine „teilweise Entkriminalisierung der Pädosexualität“ forderte, so nie geschrieben haben. Ebenso ist es richtig, dass die Grünen in ihrer Anfangsphase, ob sie es nun wollten oder nicht, eine Andockstelle für nette und für weniger nette Randgruppen gewesen sind – es gibt auch Randgruppen, die nicht sympathisch sind. Das waren die Wirren der Anfangszeit und hat mit den Grünen von heute, politisch, wenig bis nichts zu tun. Die Details dieses Kapitels der Parteigeschichte soll jetzt, finanziert von den Grünen, der Politologe Franz Walter erforschen. Ob dieses Unternehmen erfolgreicher verläuft als die vorerst gescheiterte Selbsterforschung der Katholischen Kirche, wird sich ja zeigen.

Wie war das, damals? Als Daniel Cohn-Bendit Sponti war und mit dem großen Häuptling Joschka Fischer zeitweise die Wohnung teilte, schrieb er: „Uns treibt der Hunger nach Freiheit, Liebe, Zärtlichkeit, nach anderen Arbeits- und Verkehrsformen.“ Nicht lange zuvor hatte er zusammen mit dem Philosophen Sartre einen anderen Häuptling im Gefängnis besucht, Andreas Baader. Als Baader und Ensslin vor Gericht standen, rief er laut in den Saal: „Die gehören zu uns!“ Beides gehörte damals zusammen, einerseits das selbstbesoffene Pathos, das Bewusstsein, eine neue, bessere Welt zu verkörpern, auf der anderen Seite der Glaube daran, dass für die schöne neue Welt Opfer zu bringen sind, und zwar von denen, die das falsche Bewusstsein haben. Es konnte auch mal das Leben sein. Eine Revolution ohne Exzesse gibt es nicht.

Die Instanz aber, die über moralische Fragen zu entscheiden hatte, richtig und falsch, hier eine Gewehrkugel, falsch in Vietnam, wenn ein GI schießt, richtig, wenn es den Kapitalisten Schleyer trifft, dort Sex mit Kindern, richtig, wenn es im Kinderladen passiert, falsch, wenn ein Pfaffe oder ein Spießer es tut, diese Entscheidung trafen damals die großen Häuptlinge.

Bei Augstein heißt es, dass es in der Sache Cohn-Bendit um „Rollback“ ginge, die Spießer wollten diese Affäre benutzen, um Errungenschaften der sexuellen Befreiung rückgängig zu machen. Sie wollten wieder zurück zur Prüderie. Ja, sicher, die sexuelle Befreiung war, insgesamt, eher ein Segen, und es darf nicht so weit kommen, dass jede Hilfestellung des Turnlehrers oder jede harmlose Zärtlichkeit eines Vaters unter Verdacht steht. Das Wort „Opfer“, bezogen auf einen möglichen Kindesmissbrauch durch Cohn-Bendit, setzt Augstein allerdings in Anführungszeichen. Wer in falschen politischen Zusammenhängen zum Opfer wird, der ist in dieser Denkweise offenbar nur ein „Opfer“. Und das wird nicht 1976 geschrieben, sondern 2013.

Wenn es um das Verhältnis von Sexualität und Gesellschaft geht, lohnt es sich, bei der Amerikanerin Camille Paglia nachzuschlagen. Die Kulturhistorikerin verneint die romantische Idee, dass der Mensch von Natur aus gut sei. Natur kennt keine Moral, nur das Recht des Stärkeren. Ein hohes Maß an Freiheit sei selbstverständlich erstrebenswert. Paglia selbst bekannte sich schon dazu, lesbisch zu sein, als das in den USA noch sehr riskant war, sie wurde deshalb auf dem Campus verprügelt. Völlige sexuelle Freiheit aber, schreibt Paglia, sei eine „moderne Illusion“, die auf eine Herrschaft der Starken über die Schwachen hinausläuft. Völlige Freiheit sei immer „gleichbedeutend mit einer Entfesselung von Gewalt.“

Harald Martenstein

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