Pädophilie-Debatte: Wie die Grünen ihre Altlasten aufarbeiten
Die Debatte um Pädophilie in den eigenen Reihen fordert die Grünen. Wie geht die Partei mit ihrer Vergangenheit, den Schriften und Aktivitäten einiger Parteimitglieder in den 70er und 80er Jahren um?
- Hans Monath
- Antje Sirleschtov
- Elisa Simantke
Es sollte eine Ehrung werden und geriet zum PR-Desaster. Im März wurde dem grünen Europa-Politiker Daniel Cohn-Bendit der Theodor-Heuss-Preis verliehen, als Laudator vorgesehen war der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Andreas Voßkuhle. Dieser aber sagte die Festrede zu Ehren des Grünen-Politikers ab. Zur Begründung hieß es, Bürger hätten Voßkuhle in den vergangenen Wochen zur Kenntnis gebracht, dass sich Cohn-Bendit in einer Veröffentlichung Mitte der siebziger Jahre „in nicht unproblematischer Weise zur Sexualität zwischen Erwachsenen und Kindern geäußert“ habe. Es entbrannte eine Debatte um die Vergangenheit Cohn-Bendits, aber auch über den Umgang der Grünen mit Pädophilen in den eigenen Reihen, die bis heute anhält. Die Partei verspricht jetzt Aufarbeitung dieses Teils ihrer Geschichte.
Was genau wird Cohn-Bendit vorgeworfen?
1975 erschien in Frankreich das Buch „Der große Basar“, eine Art Biografie Cohn-Bendits, in dem es unter anderem um die Arbeit Cohn-Bendits in einem alternativen Frankfurter Kindergarten ging. Der heutige Vorsitzende der Grünen im Europaparlament war 1968 der bekannteste Sprecher der Studentenunruhen in Paris. Nach seiner Ausweisung aus Frankreich lebte „Dany le Rouge“ in Frankfurt am Main, war im SDS aktiv und arbeitete im Frankfurter Kinderladen. In seinem Buch hieß es von Cohn-Bendit unter anderem, Kinder hätten häufiger seinen „Hosenlatz geöffnet“ und ihn „gestreichelt“. Er hätte dies auch erwidert. „Die Sexualität eines Kindes ist etwas Fantastisches“, sagte Cohn-Bendit damals.
Cohn-Bendit hat sich in den vergangenen Jahren mehrfach von seinen eigenen Aussagen distanziert und beteuert, er sei nicht pädophil. Es sei in Wirklichkeit auch nie zu den von ihm beschriebenen Handlungen gekommen. Tatsächlich hat trotz öffentlicher Debatten um Missbrauch in Kircheneinrichtungen und in der Odenwald-Schule bis heute kein ehemaliger Zögling Cohn-Bendits und auch keine Mutter oder Vater solche Vorwürfe gegen ihn erhoben. In einem Interview mit dem „Spiegel“ sagte Cohn-Bendit 2012 auf die Frage, was die drei größten Dummheiten seines Lebens gewesen seien: „Es gibt einen unsinnigen Text von mir in dem Buch ,Der große Basar’ von 1975. Ich schrieb über meine Erfahrung als Erzieher in einem Frankfurter Kinderladen, und das Thema Sexualität der Kinder wollte ich nicht ausklammern.“
Die Debatte um die Vergangenheit des Grünen-Politikers ist indes nicht neu. Schon nach Erscheinen des Buchs, so schrieb die Feministin Alice Schwarzer 2001 in einem Beitrag in der Frauenzeitschrift „Emma“, sei darüber in Frankreich diskutiert worden. Doch erst Anfang des neuen Jahrtausends kochte die Diskussion zumindest in Frankreich erneut hoch, zog in Deutschland aber keine größeren Debatten nach sich. Hierzulande wird das Thema erst nach der Weigerung Voßkuhles groß debattiert, dafür aber umso heftiger.
Der Deutsch-Franzose war einer der bekanntesten Protagonisten der 68er-Bewegung, die im Mai des Protestjahres mit einem Generalstreik fast die französische Regierung von General de Gaulle stürzte. Die 68er stellten bestehende Regeln radikal infrage – sowohl politische Regeln und Verfahren, aber auch das private Verhalten und vor allem die Sexualmoral. In der deutschen Nachkriegsgesellschaft, in der viele obrigkeitsstaatliche Traditionen wirkten, wollten die Jungrevolutionäre die Menschen von gesellschaftlichen Tabus befreien. Kinder sollten ihre Sexualität ohne Verbote entwickeln können. Nicht umsonst zeigt eine der Bild-Ikonen der 68er-Bewegung, das Foto der Kommune 1, nackte junge Erwachsene und einen kleinen nackten Jungen - schamhaft von hinten aufgenommen, und doch damals ungeheuer provozierend.
Wie wollen die Grünen ihre Vergangenheit aufarbeiten?
In Deutschland fanden viele 68er ihre politische Heimat später bei den Grünen. Die empfanden sich in ihrer Anfangszeit als „Anti-Parteien-Partei“ und als Sammelbecken für Gruppen, die Politik und Gesellschaft radikal verändern wollten. Aber nicht nur die Frauenbewegung gewann in der neuen Protestbewegung Einfluss, auch Pädophilen-Gruppen suchten ihre Chance bei den Grünen. Auf dem Wahlprogrammparteitag der nordrhein-westfälischen Grünen für die Landtagswahlen 1985 fand ein Forderungskatalog eine knappe Mehrheit, der auch die Forderung enthielt, gewaltfreie Sexualität mit Kindern nicht mehr unter Strafe zu stellen. Die Reaktionen waren heftig, in der gesamten Presse wurden die Grünen als „Kinderficker“ beschimpft, wie die linksliberale „taz“ den Meinungstenor zusammenfasste.
Ein eilends einberufenes anderes Parteigremium setzte den Beschluss zur Streichung des gesamten Sexualstrafrechts schon 14 Tage später wieder aus. die Landtagswahl ging trotzdem krachend verloren. Auch bei den Baden-Württemberger Grünen versuchte die „Arbeitsgemeinschaft Schwule und Pädophilie“ („SchwuP“) ihre Forderung nach Straffreiheit auf einen Parteitag zu bringen, wurde aber schon im Vorfeld von Parteigremien ausgebremst. Auf Bundesebene konnte die „AG SchwuP“ keine Erfolge und auch keine Kurzzeit-Erfolge wie in NRW erzielen, allerdings schickte sie ihre Rundbriefe, auf denen leichtbekleidete Knaben abgebildet waren, auch an die damals noch in Bonn ansässige Parteizentrale. Im Bundestag, so betonen Grünen-Politiker heute, hat ihre Partei nie eine Legalisierung von Sex mit Kindern gefordert.
„Es ist kein Zufall, dass pädophile Gruppen versuchten, gerade bei den Grünen Einfluss zu gewinnen“, urteilt der Bremer Politik- und Kulturwissenschaftler Lothar Probst. Die Grünen hätten als Partei das Erbe der 68er-Bewegung mit sich getragen, die gegen die damals herrschende rigide Sexualmoral aufbegehrte und auch einen ungezwungenen körperlichen Umgang von Erwachsenen und Kindern propagierte. Nicht nur innerhalb der Grünen habe dieser Impuls gewirkt, er sei eher aus einem Zeitgeist zu erklären, in dem starke libertäre Tendenzen wirkten: „Auch in Gesellschaft und Kultur fand dieser Impuls einen gewissen Resonanzboden“, meint Probst: „Es gab damals auch Kriminologen und Sexualwissenschaftler, die Straffreiheit für Pädophilie forderten.“
Grünen-Parlamentsgeschäftsführer Volker Beck, schon damals Kämpfer für die Rechte von Homosexuellen, sagt heute selbstkritisch, es habe in der Schwulen-Bewegung im Kampf gegen ein repressives Sexualstrafrecht „zunächst einen falschen Solidarisierungseffekt mit den Pädophilen“ gegeben, bevor dann die Distanzierung erfolgt sei.
Wie haben Grünen-Politiker auf den Fall Cohn-Bendit reagiert?
Spitzenkandidat Jürgen Trittin räumte ein, dass es bei den Grünen seinerzeit „Fehlbeschlüsse“ zum Thema Pädophilie gegeben habe. Gleichzeitig fürchten Vertreter der Ökopartei, dass der politische Gegner nun Munition für eine Kampagne in der Hand hält. CSU-Generalsekretär Alexander Dobrindt beschimpfte Cohn-Bendit als „widerwärtigen Pädophilen“. Und CSU-Chef Horst Seehofer zweifelt am Willen der Grünen, den Einfluss von Pädophilen-Gruppen auf ihre Partei in den achtziger Jahren aufzuklären. „Das sieht nach einem reinen Lippenbekenntnis aus. Die Grünen liefern kein Beispiel, dass sie es und wie sie es tun wollen", sagte Seehofer der „Welt am Sonntag". Aber auch der Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, Johannes-Wilhelm Rörig, ist über den Umgang mit dem Thema nicht zufrieden. Was Cohn-Bendit heute dazu sage, klinge nach Bagatellisierung, kritisierte Rörig, lobte aber zugleich den Bundesvorstand der Partei für die Ankündigung, Fehlentwicklungen in den Anfangsjahren der Partei aufzuklären.
Dass die Grünen sich dem Thema sehr spät stellen, meint auch Lothar Probst, der Mitglied im Beirat der Grünen-nahen Heinrich-Böll-Stiftung ist: „Der Schritt war wegen des öffentlichen Drucks unvermeidbar und überfällig. Der Grünen-Vorstand hätte sich einen Gefallen getan, wenn er diese Debatte früher aufgearbeitet und eine Studie in Auftrag gegeben hätte. Forderungen nach vorbehaltloser Aufklärung von Fehlern anderer gehören zur politischen Kultur der Grünen. Diesen Anspruch müssen sie nun selbst einlösen.“
Wie wollen die Grünen ihre Vergangenheit aufarbeiten?
Zum Wochenbeginn hat der Bundesvorstand der Grünen beschlossen, die frühen Vorgänge der achtziger Jahre, die Äußerungen Cohn-Bendits und die Reaktionen der Partei der Grünen darauf durch eine „systematische und wissenschaftlich fundierte Untersuchung“ aufzuarbeiten. Damit will die Parteiführung einen „unabhängigen Parteienforscher“ beauftragen.
Wer das sein wird, soll Ende nächster Woche bekannt gegeben werden. Und wie lange die Untersuchung dauern wird, auch. Die Grünen-Spitze habe eine „großes Interesse daran“, den Untersuchungsbericht noch vor der Bundestagswahl zu erhalten, hieß es bei den Grünen. Ob das allerdings mit den Plänen des Parteienforschers in Übereinstimmung zu bringen sei, könne noch nicht mit abschließender Sicherheit gesagt werden.