Unsere Mütter, unsere Väter: Der Krieg als Schlüssel der Erinnerung
„Unsere Mütter, unsere Väter“ ist weder Kunst noch Kitsch. Dieser ZDF-Fernsehfilm ist eine Provokation der Nation – und das im Großgedenkjahr 2013.
Vielleicht hat dieses Geschichtsgedenkjahr 2013 tatsächlich ein aktuelles Momentum. Vielleicht erfahren die heute Zwanzig- bis Vierzigjährigen und die Angehörigen der ihnen vorangegangenen Nachkriegsgeneration ein bisschen mehr über ihre eigenen Wurzeln. Mit Blick auf ihre Mütter und Väter, auf ihre Großeltern auch.
Das ist die vielfach geäußerte Hoffnung – nach dem dreiteiligen Fernsehfilm, der uns versprach, in knapp viereinhalb Stunden zu zeigen, „wie wir wurden, was wir sind“. Man muss dabei die unmittelbare Resonanz gewiss nicht überschätzen. Das ZDF hat „Unsere Mütter, unsere Väter“ in einer Weise gepuscht, die selbst die aktuellen Nachrichtensendungen noch zu einer Mischung aus bekenntnishaftem Kurzgeschichtsunterricht und Product-Placement umfunktioniert haben. Aber das macht den Erfolg des Weltkriegsdramas bei Millionen auch jüngeren, üblicherweise doch eher im Privatsendermilieu oder allein noch im Internet zu vermutenden Zuschauern nicht kleiner.
Natürlich war „UMUV“, wie der Dreiteiler jetzt als Medienkürzel schon heißt, kein absolutes künstlerisches Ereignis. Nicht vergleichbar mit einem Spielberg- oder gar Tarantino-Film. Es war kein teures Kino. Aber auch kein billiges, kein gewöhnliches Fernsehen. Mag sein, fast jede Szene, hatte sie mal begonnen, wirkte für sich genommen vorhersehbar und in ihrer Wirkungsabsicht durchschaubar. Vor allem, wenn es um die melodramatischen Partien mit dem jüdischen Jungen Viktor Goldstein, um dessen Partisanenfreundin oder um russische Krankenschwestern, jüdische Ärztinnen oder Rotarmistinnen ging. Trotzdem war der Szenenreigen mit den fünf im Gegenschnitt miteinander verknüpften Geschichten: unbestreitbar spannend. Selbst wenn die dritte finale Folge mit vermehrten Unwahrscheinlichkeiten und einigen kurzatmigen Effekten eher abfiel.
Vorwurf gegen "Unsere Mütter, unsere Väter": Deutschen werden nicht nur als Täter, sondern auch als Opfer dargestellt
Ungeachtet solcher ästhetisch-dramaturgischer oder schlicht logischer Einwände: Es war, es ist der wohl beste deutsche Kriegsfilm seit Bernhard Wickis „Die Brücke“ von 1959 und Wolfgang Petersens „Boot“ von 1981.Auch „Das Boot“ setzte, wie jetzt „UMUV“, im Jahr 1941 ein. Und schon „Die Brücke“ handelte von sehr jungen deutschen Soldaten, eben fast noch Kindern. Kanonenfutter, keine Heldentoten. Schon mit dieser (verkürzten) Wertung begibt man sich freilich auf moralisch vermintes Terrain.
Gegen „Unsere Mütter, unsere Väter“ wird ja der Vorwurf erhoben, der Film zeige die Vorfahren der jetzigen Deutschen in dem von den Deutschen begonnenen Krieg mitsamt Massen- und Völkermord nicht nur als Täter. Sondern auch als Opfer. Weil der Krieg eben der Vater aller grausamen, verrohenden Dinge sei. Dabei gerate jedoch in Vergessenheit, dass die von den Deutschen überfallenen europäischen Völker und die alliierten Amerikaner einen gerechten Krieg geführt hätten. Anders als Hitler.
In „UMUV“ ging es in der Tat vornehmlich um den deutschen Krieg. Den Krieg der Deutschen gegen alle anderen, aber auch gegen sich selbst. Das gehört nämlich mit zur historischen Wahrheit: Hitler, die Nazis haben ab dem 30. Januar 1933 einen lange geplanten Bürgerkrieg gegen einen Teil ihrer eigenen Landsleute geführt (zu denen auch die Juden gehörten). Wer etwa bildungsferne, uneinsichtige, für rechtsextreme Propaganda anfällige junge Leute überhaupt noch erreichen möchte, der sollte dieses Argument immerhin nicht vergessen: dass die Nazis auch Deutschland zerstört haben und ihr monströser Totenkult ein mörderischer, selbstmörderischer war.
Nun folgt daraus nicht, dass alle Täter auch Opfer sind. Und hier muss man den ZDF-Film von Autor Stefan Kolditz, Regisseur Philipp Kadelbach und Produzent Nico Hofmann verteidigen: Ihr Film „entschuldigt“ keine historische Schuld. Er bedient auch nicht das von vielen Deutschen nach 1945 – etwa gegenüber zurückkehrenden Emigranten – geäußerte Selbstmitleid der Art „Wir, die wir dableiben oder mitmachen mussten, wir, die wir besiegt wurden, haben ja auch und manchmal mehr gelitten als ihr dort im Ausland, bei den Siegern!“.
Nein, dieser so viel diskutierte Fernsehfilm ist kein verbrämtes Heldenepos.
Beispielsweise spielte die Bombardierung Deutschlands (und seiner Zivilisten), die sich für eine solche Tendenz, wenn es sie denn gegeben hätte, als Erstes anbietet, hier keinerlei Rolle.
Nein, dieser so viel diskutierte Fernsehfilm ist kein verbrämtes Heldenepos. Es gibt Hauptdarsteller, nicht Heroen. Es gibt Protagonisten, die töten, lieben, zittern, helfen, denunzieren, die bestenfalls so tapfer sind wie sie auch feige sind. Man kann sagen, das sei ein bisschen kitschig und eben nur: allzu menschlich. Also nichts Neues.
Dies ist indes beim quotenschielenden deutschen öffentlich-rechtlichen Ausgewogenheitsfernsehen etwas durchaus Seltenes: Die Protagonisten waren gemischte Charaktere. Das ist in der Kunst, in der Literatur, im Theater oder ambitionierten Kino fast schon die Voraussetzung für Dramatik, Spannung, Geheimnis. Der typische deutsche TV-Film aber kennt keine wirklichen Abgründe, nur immer flache Gründe, bestenfalls ein paar halbwegs gefahrengeneigte Untiefen wie im „Tatort“. Oder in jeder Seitensprungstory.
Was ist neu an der Geschichte der Fernsehproduktion?
Neu ist das in der Geschichte der deutschen Fernsehproduktion also doch: Wenn Protagonisten zur besten Sendezeit zu sympathiestiftenden Identifikationsfiguren erhoben werden, um sich dann auch als Henker oder Henkershelfer zu erweisen. Als Heillose, Unheilige, sogar im Widerstand. Als Menschen in ihren Widersprüchen, egal ob sie auf der menschenrechtlich richtigen oder falschen Seite kämpfen. Die einseitigen Schurken, den skrupellosen SS-Zyniker und den sadistischen Feldwebel, die gab es als Stereotypen auch diesmal wieder. Doch Schauspieler und Gesichter wie Volker Bruch und Tom Schilling als das junge Brüderpaar Winter oder Miriam Stein als furiose, fanatische, zweifelnde, verzweifelnde Kriegskrankenschwester Charlotte wird man so schnell nicht vergessen.
So wenig wie eine Szene, die der deutsche Film bislang überhaupt noch nie erfunden hatte. Tom Schilling als Soldat wider Willen geht auf seinem immer gewaltsameren Weg durch den Vernichtungskrieg im Osten einmal durch einen Birkenwald. Ein Insekt fliegt ihn an, er schlägt es weg und hat eine blutige Hand. Da bemerkt er, dass auch der Waldboden unter ihm weich nachgibt, es dort summt und bebt, ein dunkelblutiger Grund voller Insekten und Maden. Ein doppelter Boden, lebend über den Toten. So wurde, ohne jeden weiteren Kommentar, die Stätte eines verschütteten Massakers, ein Ort wie Babi Jar, noch nie in ein neues Bild gebannt. Der Junge geht auf, geht über Leichen, und die unsichtbaren Toten sind doch noch da. Sind nie vorbei.
Die ganze unendliche Diskussion über die Verbrechen der Wehrmacht, das nur nebenbei, ist nach diesem Film auch nochmals ein Stück weiter. Was mit der bekannten Ausstellung begann, wird hier zur Fiktion, die das Faktische trifft.
Wie nachhaltig ist das aktuelle Interesse der Kindeskinder an dieser Geschichte wohl?
Allerdings ist es legitim, Kriegsfilme an sich nicht zu mögen. Wie ja viele Menschen Krieg nicht mögen und ihn deshalb am liebsten verbieten würden. Das aber hatte in der Geschichte der Menschheit bisher nur begrenzten Erfolg. Wer Gewalt verabscheut, sollte die Augen vor der real existierenden Gewalt nicht verschließen. Ein pazifistisch gesinntes juste milieu, vor allem der alten Bundesrepublik, hat das lange versucht. Erst die anhaltenden, inzwischen unausweichlichen Weltkonflikte, vom Balkan bis Afghanistan, haben da auch manchem Wegseher die Augen geöffnet. Und sagen wir’s so: Ein politisch völlig korrekter Kriegsfilm verharmlost den Krieg wohl mehr, als dass er die wahre, mitunter auch von den Guten und Gerechten verübte Grausamkeit erhellt.
Vor allem aber: Der Krieg ist ein Schlüssel im Schloss der Erinnerung.
Im Januar vor 80 Jahren kam Adolf Hitler an die Macht und begann die zwölfjährige Diktatur: mit der sogleich einsetzenden Verfolgung von Regierungsgegnern, von Sozialdemokraten und Kommunisten, von jüdischen Bürgern, von Künstlern und kritischen Intellektuellen. Im Februar 1933 brannte der Reichstag, ein Vierteljahr darauf brannten die Bücher und später die Menschen. Der Unrechtsstaat aber hüllte sich ins Gewand seines selbst geschaffenen Rechts.
Erinnerung verblasst erst, dann verändert sie sich.
Heute vor 80 Jahren peitschten die Nationalsozialisten das „Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich“ durchs Parlament. Es war die formale Ermächtigung der neuen Machthaber, der Freibrief zur Unfreiheit. Beschlossen gegen die Stimmen, gegen den durchaus heroischen Widerstand allein der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion. Ab dann gab es in der Politik des „Dritten Reichs“ nur noch eine Partei, die das Sagen, Brüllen und Befehlen hatte.
Die bis heute in Filmen, Büchern, Magazinen offenbar ungebrochene Faszination des Bösen – Stichwort: Hitler sells – gründet sich freilich mehr auf das Ende, welches im Anfang schon beschlossen war. Hitlers Reich, das bedeutete vor allem: Krieg, Weltkrieg, Holocaust, Inferno, Untergang. Was dann zusammengenommen den Wiederaufstieg Deutschlands zur erfolgreichen Wirtschaftsmacht und einem gesitteten, demokratisch vereinten Staatswesen in der Mitte Europas noch immer zu einem Wunder macht.
Aber das Wunder verblasst. Wie alle Erinnerung erst verblasst, sich dann verändert – wenn Zeitgeschichte mit der Zeit zur Geschichte wird und die Historie im Zeichen der eigenen Historizität von den Nachgeborenen mal vergessen, mal wiederentdeckt, mal neu erzählt wird, in jedem Fall aber in die Ferne rückt.
Plötzlich erscheint einem Teil der deutschen Öffentlichkeit diese Ferne nun wieder recht nah. Oder dringlich, sich ihr zu nähern. Es wächst das Bewusstsein, dass die letzten Zeitzeugen einer weltgeschichtlichen Erschütterung bald wirklich nicht mehr leben werden. Unlängst ist der letzte Beteiligte des 20. Juli 1944, des Attentats auf Hitler, gestorben. 2015, wenn sich das Ende von Auschwitz und das Ende des Weltkriegs zum 70. Mal jähren, 2019, wenn es 80 Jahre seit Kriegsbeginn sein werden, dann gibt es immer weniger Menschen, die aus bewusstem, beteiligtem Erleben erzählen können. Das macht den allgemeinen Appell zur letztmöglichen Zeitzeugen-Dokumentation zum aktuellen Momentum. Es bedarf dann allerdings mehr als ein paar Videobotschaften oder einer Verkürzung der Oral History auf Talkshow-Anekdoten. Da ist noch viel zu tun, in ganz Europa und weit in der Welt.
Es bleiben Fragen offen
Die Frage freilich bleibt, wie nachhaltig das aktuelle Interesse der Kindeskinder an dieser Geschichte wohl ist. Als vor 15 Jahren mein damals 15-jähriger Sohn eines Morgens vor der Schule beim schnellen Frühstück einen Blick auf die daliegende Tageszeitung warf, sah er die Titelschlagzeile „Höchste Arbeitslosenzahl seit dem Krieg“. Und er fragte: „In Jugoslawien?“
Nach einem Augenblick der Verblüffung wurde mir etwas klar. Zu dieser Zeit war das Wort „Krieg“ in den täglichen Fernsehnachrichten andauernd mit Ex-Jugoslawien verbunden. Und die Selbstverständlichkeit, mit der die Älteren – Eltern, Lehrer, Politiker, Journalisten – Deutschland auch Jahrzehnte später noch an der Zäsur des Zweiten Weltkriegs maßen und sich als „Nachkriegsdeutsche“ empfanden, sie war für die Kindeskinder absurd. Sie leben in keinem Kriegs- und auch keinem Nachkriegsland mehr. So wird Zeitgeschichte zur Geschichte.
Zu bezweifeln aber ist, ob die neue, auch die Ausstrahlung von „Unsere Mütter, unsere Väter“ in mehreren Dokumentationen begleitende Mode, originale Fotos und Filme aus der Zeit vor 1945 digital einzufärben, hierbei einen Sinn ergibt. Die meist gar nicht mehr ausgewiesene Fälschung, die Fülle der falschen Farbe soll das Ferne echter machen, für die Jüngeren näherrücken. Damit wird jedoch die alltagskulturelle, lebensgeschichtliche Differenz nicht überbrückt. Der Bruch wird eher übermalt.
Vor gut 50 Jahren im Eichmann-Prozess in Jerusalem hatte ein Zeuge der Selektionen berichtet, dass er sich an eine bestimmte, fürchterliche Szene so genau erinnere, weil das betroffene kleine Mädchen einen knallroten Mantel trug. Steven Spielberg hatte vor jetzt 20 Jahren seinen Holocaust-Spielfilm „Schindlers Liste“ sehr bewusst in Schwarz-Weiß gedreht. Nur ein einziges Mal gab es einen Farbfleck. Der Mantel eines kleinen jüdischen Mädchens leuchtete rot. Rot aus all dem Grauen.
Wenn die Zeitzeugen, die Mütter, Väter, Großmütter, Großväter zu erzählen beginnen und die Alben mit den kleinen, am Rand gezackten Schwarz-Weißfotos vor ihnen liegen, berührt das noch immer. Weil deutlich wird, wir kommen aus einer anderen Zeit. Und sind in einer anderen Zeit. Aus diesem Bewusstsein erst entsteht Geschichte. Erinnerung und Zukunft.