Artikel 22 Grundgesetz: Der Bund vernachlässigt seine Verantwortung für Berlin
"Die Hauptstadt der Bundesrepublik Deutschland ist Berlin. Die Repräsentation des Gesamtstaates in der Hauptstadt ist Aufgabe des Bundes. Das Nähere wird durch Bundesgesetz geregelt." Seit acht Jahren hat sich der Bundestag um die Erfüllung der im letzten Satz gestellten Aufgabe nicht gekümmert.
Nur nicht dran rühren. Das sagt sich leicht über Zustände, deren rechtliche Basis nicht ganz geklärt, mit denen man aber dennoch zufrieden ist. Nur nicht dran rühren – dieser Satz fällt auch, wenn sich Betroffene um die Lösung eines Problems drücken.
Was davon auf die Hauptstadtrolle Berlins zutrifft, mag jeder für sich beantworten. Unstrittig ist, dass der Artikel 22 des Grundgesetzes seit dem 1. September 2006 so lautet: „Die Hauptstadt der Bundesrepublik Deutschland ist Berlin. Die Repräsentation des Gesamtstaates in der Hauptstadt ist Aufgabe des Bundes. Das Nähere wird durch Bundesgesetz geregelt.“ Seit acht Jahren hat sich der Bundestag, der für die Gesetzgebung zuständig ist, um die Erfüllung der im letzten Satz gestellten Aufgabe nicht gekümmert: Weder die regierenden noch die opponierenden Parteien fanden es der Mühe wert, Art und Umfang der Repräsentation des Bundes in seiner Hauptstadt gesetzlich zu regeln. Auch der Bundesrat, der dazu sicher ebenfalls Grundlegendes zu sagen hätte, äußerte sich bislang nicht.
Berlin als eine Art Spiegelbild der ganzen Nation
Als die Stiftung Zukunft Berlin und der Tagesspiegel vor einem halben Jahr Vertreter der verschiedensten gesellschaftlichen Gruppierungen mit der Frage konfrontierten, wie sie sich denn die Rolle des Bundes in Berlin vorstellen, antworteten die meisten unter Hinweis auf die kulturelle Strahlkraft der Hauptstadt, die zu stärken eine besondere Aufgabe des Bundes sei. „Was in der Hauptstadt kulturell gelingt, wird in den Augen der Welt dem ganzen Land gutgeschrieben. Was dort misslingt, dafür wird, von außen jedenfalls, das ganze Land verantwortlich gemacht.“ Das schrieb Monika Grütters dazu, und die Kulturstaatsministerin forderte von der Hauptstadt, deren Abgeordnete sie ja auch ist, „dienender Mittelpunkt“ zu sein. Michael Naumann, in der Ära Schröder der erste Kulturstaatsminister, blies ins gleiche Horn: „Wer aus dem Ausland nach Berlin kommt, erwartet eine Art Spiegelbild der ganzen Nation“, las man in seinem Beitrag.
Alle richteten sich im Hier und Jetzt bequem ein
Nun ist die Rollenzuschreibung als kulturelles Aushängeschild des Landes Ehre und Herausforderung zugleich, denn dazu gehören nicht nur Staatsoper und Philharmoniker, es beschreibt ja auch den Umgang mit den Lasten der Vergangenheit, vom Holocaustmahnmal über die Gedenkstätte Plötzensee bis zur Sichtbarmachung der Mauer in der Bernauer Straße. Aber für Art und Umfang der Repräsentation des Gesamtstaates ist das wohl doch eher eine Verkürzung und Reduzierung auf das Unbestrittene. Die Verantwortung des Bundes reicht weiter.
Es sieht nicht so aus, als hätten Parlament oder Länderkammer Eile, sich mit der Frage auseinanderzusetzen. Alle richteten sich im Hier und Jetzt bequem ein. Da kann ein Anstoß von Edzard Reuter helfen, die Sache nicht weiter auf die lange Bank zu schieben. Er schrieb in dieser Zeitung, für Berlin ginge es nicht um Anspruch, sondern um Verpflichtung. Die zu definieren, ist Aufgabe des Abgeordnetenhauses von Berlin. Im Vorspruch zur Verfassung des Landes heißt es bislang nur lakonisch „Berlin, die Hauptstadt des vereinten Deutschland“. Der neue Regierende Bürgermeister wird wohl drängendere Aufgaben sehen als die Belebung der Debatte, was das bedeutet. Er könnte jedoch, im Konsens der im Landesparlament vertretenen Parteien, ein offenes Gremium berufen. Das erörtert dann, wie die Hauptstadt ihre dienende Rolle für den Gesamtstaat und seine Repräsentation sieht. Das hilft unserem Selbstverständnis weiter. Und dem des Bundes vielleicht auch.
Alle Beiträge unserer Hauptstadtserie unter www.tagesspiegel.de/kultur
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