Demographie und politische Bildung: "Demokratie lernen" ist heute besonders wichtig
Die Gesellschaft altert. Muss sich politische Bildung also mehr auf die Alten konzentrieren? Im Gegenteil, sagt der Leiter der Zentrale für politische Bildung in Baden-Württemberg. Ein Gastkommentar.
"Demographie ist Schicksal" überschrieb die amerikanische Zeitschrift "The Weekly Standard" im April 2012 eine Buchbesprechung. Bevölkerung sei die Quelle von Macht, und zwar wirtschaftlicher und militärischer Macht. Entwickelte Länder im demographischen Niedergang, so wird geargwöhnt, hätten zwar Nuklearwaffen, aber dafür fehle mangels junger Menschen die militärische "manpower". Im Fall einer Sicherheitsbedrohung oder Provokation blieben solchen Ländern dann nur zwei Optionen: Passivität oder Überreaktion. Eine alternde Gesellschaft – ungewollt möglicher Auslöser eines Nuklearkrieges? So pessimistisch muss man nicht sein. Aber eine rapide alternde Gesellschaft - in Deutschland schneller als anderswo - stellt uns vor Fragen, die wir heute erst in Ansätzen diskutieren, obwohl schon vor über 20 Jahren klar die Altersentwicklung vorauszuberechnen gewesen war.
Wie können Mobilität und Gesundheit bis ins hohe Alter bewahrt werden, was ist dafür zu tun? Welche Pflege- und Betreuungseinrichtungen brauchen wir, wie können wir den Zusammenhalt von Familien und Generationen sichern helfen? Wie beantworten wir ethisch höchst heikle Fragen, die sich in einer alternden Gesellschaft verstärkt stellen, zum Beispiel die Frage der Sterbehilfe? Brauchen wir mehr Zuwanderung, und wenn ja, von wem? Dies sind Fragestellungen, die die politische Bildung in Deutschland beschäftigen und von ihr in Veranstaltungen und Publikationen thematisiert werden müssen.
Jetzt kommt das Aber: Heißt das auch, dass die politische Bildung die immer größer werdende Zahl der alten Menschen zum Anlass nehmen muss, diese verstärkt als Zielgruppe ihrer Angebote ins Auge zu fassen? Ich meine: im Großen und Ganzen nein. Das klingt vielleicht hart, und man erahnt schon die mahnenden Stimmen: Können wir als politische Bildner es uns wirklich leisten, die größer werdende ältere Generation "links liegen" zu lassen?
Das können wir natürlich nicht. Schon heute zielt ein Großteil unserer Angebote auf Menschen außerhalb des Jugendalters – im Fachjargon Multiplikatorinnen und Multiplikatoren der politischen Bildung genannt, also zum Beispiel Gemeinschaftskunde- und Politiklehrer, Volkshochschuldozenten, Ehrenamtliche in Vereinigungen und Organisationen mit politischen Aufgabenstellungen. Das wird auch in Zukunft so sein.
Je älter die Menschen, desto politisch interessierter
Zudem müssen wir uns ein realistisches Bild der älteren Generation machen. Dazu hat die "Generali-Altersstudie" aus dem Jahr 2013 eine Vielzahl von wichtigen Fakten ans Licht gebracht. Sie zeichnet das Porträt einer älteren Generation in Deutschland, "deren wichtigstes Anliegen es ist, unabhängig zu bleiben, und zwar finanziell sowie von konkreten Hilfeleistungen Dritter". Autonomie sei ihr "zentrales Leitmotiv". Die "Welt am Sonntag" titelte kürzlich sogar: "Die wilden Alten kommen".
Ob wild oder nicht: Ältere Menschen sind gemäß der Generali-Altersstudie deutlich überdurchschnittlich politisch interessiert und informiert und sehen sich mit einer klaren Mehrheit weiter in der Verantwortung für die Entwicklung des Landes und der Gesellschaft und wollen dies nicht vorrangig den Jüngeren überlassen. Für immerhin 19 Prozent der Älteren kommt ein stärkeres Engagement in Frage. Hier liegt eine Chance für die politische Bildung: Dieses Potenzial gilt es für ehrenamtliches und politisches Engagement zu heben.
Dennoch sollten auch künftig die jungen Menschen im Mittelpunkt unserer Bemühungen stehen. Sie kommen nicht als Demokraten auf die Welt, sondern müssen es erst werden. Dazu braucht es politische Bildung, und die kommt in den seltensten Fällen von alleine. Junge Menschen interessieren sich heute relativ wenig für institutionelle Politik ("uncool"), aber oft sehr für gesellschaftliche Fragen, die vorwiegend politisch sind: Gerechtigkeit, Umweltschutz und Gleichberechtigung zum Beispiel. Ein Engagement in etablierten Einrichtungen wie politischen Parteien wird dagegen fast rundweg abgelehnt.
Politische Bildung muss an den Schulen eine größere Rolle spielen
Die Wahlbeteiligung der jüngeren Alterskohorten ist zum Teil weit unterdurchschnittlich, der politische Informationsstand meist verbesserungswürdig – vorsichtig ausgedrückt. Je ärmer die Bevölkerungsschicht, aus der junge Menschen stammen, umso mehr verschärfen sich tendenziell die Defizite an Wissen und Beteiligung; und selbst bei Studentinnen und Studenten ist das politische Interesse erheblich gesunken, wie eine Ende Oktober veröffentliche Studie im Auftrag der Bundesregierung nachweist. Hier muss politische Bildung vorrangig ansetzen, wenn die Demokratie langfristig gesichert werden und attraktiv bleiben soll. Die Extremisten von links und rechts schlafen nicht.
Junge Menschen sind heute umworben wie keine junge Generation vor ihnen. Dies ist vor allem der Tatsache geschuldet, dass Unternehmen, gesellschaftliche Organisationen wie Vereine und Verbände und zunehmend auch viele Bildungseinrichtungen gewaltige Nachwuchssorgen haben. In deren Folge wird um die Aufmerksamkeit junger Menschen heftig gekämpft – es gibt zum Beispiel fast keine Organisation mehr, die nicht in den sozialen Netzwerken vertreten wäre, einem besonders beliebten Tummelplatz vor allem jüngerer Leute. Damit die politische Bildung in diesem Wettbewerb nicht von vorneherein unterliegt, muss sie dringend gestärkt werden – insbesondere an den Schulen, wo sie in den letzten Jahren mehr als stiefmütterlich behandelt und immer weiter zurückgefahren wurde.
Politik, auch das muss jungen Leuten vermittelt werden, ist nicht zuletzt die Organisation von Interessen. In einer Gesellschaft, in der ältere Menschen die große Mehrheit der Wählerschaft stellen, werden eben leichter höhere Renten als superschnelle Internetverbindungen finanziert. Kaum waren die Mütterrente und die Rente ab 63 im Bundestag beschlossen, titelte der "Spiegel": "Der Bröckelstaat". Im zugehörigen Artikel wurde auf die teilweise marode Infrastruktur unseres Landes und die (noch) fehlenden Zukunftsinvestitionen hingewiesen.
Wenn junge Leute in Zukunft in Sicherheit und Wohlstand leben wollen, dann müssen sie sich für ihre Interessen einbringen. Politische Bildung kann wesentlich dazu beitragen, hierfür bessere Grundlagen zu schaffen. Ihre finanzielle und personelle Ausstattung ist daher ein deutlicher Fingerzeig dafür, wie ernst es der Politik mit den Zukunftschancen junger Menschen ist.
Lothar Frick nimmt teil am Demokratie-Kongress der Konrad-Adenauer-Stiftung zum Thema Demographie am 21. November in Bonn. Tagesspiegel.de veröffentlicht diesen Beitrag im Rahmen einer Demographie-Diskussion in Kooperation mit der KAS.
Lothar Frick