Ehrenamt und Demographie: Der Traditionsverein stirbt aus - na und?
Parteien klagen über Mitgliederschwund, traditionelle Vereine fürchten den demographischen Wandel. Dabei lässt das Engagement nicht nach. Es verändert sich nur. Und Erfolg ist sehr wohl möglich. Ein Gastkommentar.
Fährt man heute durch ländliche Gegenden Deutschlands, so findet man immer häufiger vergessene Orte und Menschen. Vergessen wurden sie von Markt und Staat. Hilflos agierende Lokalpolitiker verwalten bestenfalls den Mangel: Zu weit entfernt für Busse und Bahnen, zu klein für einen Lebensmittelmarkt, uninteressant für Ärzte und für die eigenen Kinder. Als Ergebnis der stetigen Erosion der gesamten Infrastruktur eines Ortes verbleiben oft nur noch die Vereine.
Hier organisiert sich immer häufiger das Überleben: Ein Pfarrer richtet einen ehrenamtlich betriebenen Lebensmittelmarkt ein, Bürger schaffen Mobilitätshilfen, engagierte Ärzte suchen neue Wege der Versorgung immer größerer Einzugsgebiete und altgediente Konzepte wie die Gemeindeschwester erleben eine Renaissance und heißen jetzt beispielsweise "Parish Nursing".
In den Städten ist die Versorgungslage zwar naturgemäß besser. Angesichts massiv steigender Lebenshaltungskosten, vor allem beim Wohnraum, und einer zunehmenden Vielfalt an (Sub-) Kulturen auf immer weiter verdichtetem Raum, zeigen sich aber auch hier neue Problemlagen, so dass sich hier ebenfalls die Frage stellen wird, ob Markt und Staat die Versorgung und den sozialen Frieden werden dauerhaft sicherstellen können.
Engagement wird mehr denn je gebraucht. Was aber ist, wenn das Engagement bedingt durch den demographischen Wandel ebenfalls wegbricht? Diese Befürchtung ist zunächst nicht unrealistisch, da die Bevölkerung in der Tat schrumpft und immer älter wird. Doch bedeutet dies, dass das Engagement abnimmt? Im Gegenteil. Kurzfristig stabilisiert die demographische Entwicklung das Engagement rein zahlenmäßig sogar. Mit den 68ern und den Babyboomern gehen sehr aktive Generationen absehbar in den Ruhestand. Keine Seniorengeneration vor ihnen war jemals so gebildet, so rüstig und verfügte über so umfangreiche materielle Ressourcen. Es sind Generationen, in denen Engagement kein Fremdwort ist. Schon in den vergangenen Jahren nahm ihr Engagement zu und kompensierte sogar die leicht abnehmende Zahl jüngerer Mitbürger.
Wo aber bleiben die jüngeren Engagierten? Diese, so eine verbreitete Argumentation seit den späten 80er Jahren, würden rein zahlenmäßig immer weniger und hätten immer weniger Lust, sich zu engagieren, erst recht nicht in den bestehenden erstarrten Strukturen von Vereinen und Verbänden. In der Tat zeigte sich über Jahrzehnte eine Reihe von Krisensignalen. Schreckensmeldungen über dramatische Mitgliederverluste und ausbleibenden Nachwuchs aus Parteien, Verbänden, Kirchen und Gewerkschaften schienen die düsteren Prognosen zu bestätigen.
Traditionelle Milieus verlieren an Zuspruch - und Parteien leiden
Jahre später lichtet sich jedoch der Nebel auch durch die Erkenntnisse umfangreicher empirischer Studien zum Beteiligungs- und Engagementverhalten wie dem Freiwilligensurvey des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Weder ist es zu einem dramatischen Rückgang des Engagements junger Menschen insgesamt gekommen, noch zu einer reinen "Projektkultur" oder einem Bedeutungsverlust klassischer Organisationsformen wie der des Vereins. Im Gegenteil: Die Zahl der Vereinsgründungen ist hoch und das Engagement Jugendlicher nimmt sogar in einigen traditionellen Bereichen wie der kirchlichen Jugendarbeit seit einigen Jahren wieder zu. Die anhaltenden Klagen einzelner Vereine und Verbände müssen vor diesem Hintergrund erheblich differenzierter gesehen werden und sind mitnichten eine Krise des Engagements allgemein oder des organisationalen Strukturtyps des Vereins. Sie lenken vielmehr den Blick weg von den politischen, rechtlichen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen auf das Geschehen in den Organisationen. Da ist der Wissensstand bisher jedoch eher begrenzt.
Bekannt ist, dass die Bindungskraft von stark Milieu-gebundenen Organisationen dramatisch nachlässt. Traditionelle Milieus wie das bürgerlich-liberale, katholisch-konservative oder sozialdemokratische schwinden und mit ihnen die Mitglieder vieler großer Parteien und Verbände. Bekannt ist auch, dass sich das Arbeits- und Freizeitverhalten der Menschen massiv verändert. Es gibt immer mehr Alternativen zum freiwilligen Engagement: Fernsehen, Internet oder kommerzielle Angebote wie Shopping oder Fitnessstudios nehmen immer mehr Raum bei den Bundesbürgern ein und stehen somit in Konkurrenz zu einem Engagement. Zugleich werden die Biographien der Menschen immer vielschichtiger und individueller. Bildungs-, Berufs- und Familienphasen wechseln sich stärker ab, die Mobilität nimmt zu. Das alles führt zu höheren Anforderungen an die Vereine, die viele ratlos zurück lassen.
Eigene Ideale und Wertvorstellungen verfolgen - das kommt an
Doch es gibt auch positive Signale. Eine kürzlich vom Institut für Zukunftsfragen für Gesundheits- und Sozialwirtschaft mit der Bertelsmann Stiftung beendete Studie zeigt, wie sich Organisationen unter den veränderten Rahmenbedingungen seit Jahren gut behaupten können. Untersucht wurden zwölf besonders erfolgreiche Jugendorganisationen, von christlichen Pfadfindern, Freiwilliger Jugendfeuerwehr, Umweltverbänden bis hin zum Jugendtheater und Sportverein. Sie alle haben gemein, dass sie keine Nachwuchssorgen plagen und es innerhalb ihres Aktionsraums schaffen, viele junge Menschen zum Engagement zu bewegen.
Ein Erfolgsgeheimnis ist dabei, dass sie den jungen Engagierten einen authentischen und identifikationsfähigen Gesamtrahmen bieten. Damit das gelingen kann, muss der Verein dicht an den jungen Menschen sein. Er muss wissen, wer zur Zielgruppe gehört, wo diese erreichbar ist, wie die Ansprache funktioniert und wie man sie einbinden kann. Selbstbestimmte und ernstzunehmende Arbeit mit konkreten Wirkungen spielen hier eine besondere Rolle.
Dabei rennen die Organisationen nicht aktuellen Themen und Trends hinterher, sondern verfolgen konsequent die eigenen Ideale und Wertvorstellungen. Das schafft Orientierung und kommt gut an, allerdings nur, wenn es mit der Kommunikation und Außendarstellung klappt. Eine fast eigenständige und für andere Generationen oft schwer zu verstehende Bedeutung haben dabei ästhetische Fragen erlangt. Die Ansprüche der jungen Generation an Design und Mediengestaltung haben sich verselbständigt und sind hoch. Was diesen Ansprüchen nicht genügt, ist schnell "peinlich".
Die Aufgaben sind herausfordernd. Die stärkere Aktivierung Engagierter kann über die Generationen hinweg gelingen. Entschieden wird dies jedoch nicht in Berlin, Düsseldorf oder München, sondern in den zahllosen Vereinen und Verbänden der Republik. Stellen sie sich den neuen Herausforderungen, sind sie bereit, lieb gewonnene Konzepte, Strukturen und Prozesse zu überdenken, wird ein tragfähiges Fundament für die künftige Zivilgesellschaft gelegt. Diese muss dann keineswegs alt aussehen.
Michael Vilain nimmt teil am Demokratie-Kongress der Konrad-Adenauer-Stiftung zum Thema Demographie am 21. November in Bonn. Tagesspiegel.de veröffentlicht diesen Beitrag im Rahmen einer Demographie-Diskussion in Kooperation mit der KAS.
Michael Vilain