Demographie und politische Bildung: Demokratie ist keine Schmuseecke
Demokratie will gelernt sein. In einer älter werdenden Gesellschaft muss deshalb gerade an den Schulen viel mehr für die politische Bildung der Jugendlichen getan werden. Ein Gastkommentar
Die Zahl junger Menschen nimmt ab und damit sinkt ihr politisches Gewicht. Umso wichtiger ist es, dass junge Menschen zu bewussten und aktiven Bürgern in Gesellschaft und Staat werden können – eine Aufgabe für politische Bildung!
Demokratie-Lernen passiert nicht im Alltag und von selbst, außer bei wenigen Jugendlichen in politischer Umgebung (in politisch interessierter Familie und mit politisch aktiven Freunden). Ihnen ist die Schule eine zusätzliche Hilfe, sie sind aber nicht für ihr politisches Mündigwerden von entsprechendem Unterricht abhängig. Doch sie sind die Ausnahme, für die große Mehrheit der Jugendlichen ist das ganz anders!
Im Alltag bewegen wir uns als soziale Wesen, wir leben mit anderen und verfolgen gemeinsame Ziele und Ideen. Dieses soziale Miteinander ist selbstverständlich, anders könnten wir nicht existieren. Das Irritierende ist aber, dass soziales Lernen nicht zugleich auch politisches Lernen ergibt.
Ein Beispiel: Wir fragten in unserer Sachsen-Anhalt-Studie rund 1500 Jugendliche, ob sie folgender Aussage zustimmen: "Eine lebensfähige Demokratie ist ohne politische Opposition nicht denkbar". Ja, etwa 70 Prozent der Befragten stimmten zu – so weit, so gut. Aber zwei Drittel stimmten auch dieser Aussage zu: "Aufgabe der politischen Opposition ist es nicht, die Regierung zu kritisieren, sondern sie in ihrer Arbeit zu unterstützen." Sie verlangen also Kooperation, wo Konflikt der Sinn der Sache ist! Sie befürworten Demokratie, haben aber eine idyllische Vorstellung von ihr, als sei Demokratie eine Schmuseecke.
Streiten will gelernt sein
Wie ist das zu erklären? In unseren alltäglichen Gemeinschaften leben wir miteinander und verfolgen gemeinsame Ziele und Ideen. Dieser soziale Nahraum ist durch Harmonie geprägt, zu der wir bei unterschiedlichen Auffassungen zurückkehren – oder wir trennen uns. Ganz anders ist es in der politischen Demokratie, in der die die Rahmenbedingungen für unser gesellschaftliches Leben gesetzt werden. Hier wird gestritten: Die Konkurrenz um Ziele und Wege sowie der Kampf um Mehrheiten für Entscheidungen machen Demokratie aus.
Eine dialektische Beziehung von Konflikt in der Sache und Konsens über das zivilisierte Austragen dieser Konflikte erhält Demokratie am Leben. Aussteigen kann man nicht, denn wir bleiben Bürger, auch wenn wir apathisch sind. Die Vorgänge sind häufig frustrierend (man muss verlieren können und doch weiter machen), die Zusammenhänge sind häufig sehr undurchsichtig (wer kann schon den Ukraine-Konflikt in seinen vielen Konfliktlinien verstehen) und jeder von uns ist nur eine(r) von Millionen mit gleichen Rechten und gleicher Würde.
Was kann Schule tun? Wie können jene erreicht werden, die nicht auf der Sonnenseite des politischen Interesses und der politischen Partizipation aufwachsen? Bloße Belehrung wird sie kaum erreichen, denn ein politischer Erfolg ist nicht schnell zu greifen und schon gar nicht nur durch Hinhören. Zwei Elemente müssen verknüpft werden: Handeln und Reflexion. Das Handeln ist wichtig, weil es die jungen Menschen mitnimmt und sie tätig werden lässt. Reflexion ist wichtig, weil sie dem Handeln eine verantwortbare Richtung weisen kann und weil sie handlungsfähig macht durch Einsichten in politische Mechanismen.
Was Schule machen kann
An vielen Schulen wird vor Bundestags- und Landtagswahlen die Juniorwahl durchgeführt. Die Jugendlichen bearbeiten im Unterricht das System und die Positionen, vor der Wahl stimmen sie selbst ab (Simulation der Wahl) und am Wahltag selbst und danach konfrontieren sie ihre Positionierung mit dem Wahlergebnis in ihrer Schule und in der Wahlbevölkerung. Dies ist eine gute Verknüpfung von Lernen durch Handeln und von Handeln mit Lernen.
Es gibt weitere solche Zugänge wie zum Beispiel das Projekt U18 und den Wahl-O-Mat. Es ist gut, wenn Projekte des service learning, bei denen Jugendliche aus der Schule heraus in die gesellschaftliche Realität gehen, um zum Beispiel in Altenheimen zu helfen, diesen Doppelklang von Handeln und Lernen nutzen. Die Jugendlichen kommen vielleicht in die Schule zurück und berichten, dass die alten Menschen unbekannte Vorgänge kommentieren (wie die Einstufung in "Pflegestufe I" oder "Pflegestufe II"). Dann ist die Gelegenheit für den Unterricht gegeben, um Probleme und Konflikte des Gesundheits- und Sozialversicherungssystems zu bearbeiten.
Die Politik-Didaktik bietet einen reichen Schatz von Vorschlägen, wie im Unterricht auf politische Gegenstände geblickt werden kann. Die fachdidaktischen Prinzipien wie zum Beispiel das Fallprinzip setzen beim Subjekt an, zentrieren um Konflikte und taugen für alle Lerngruppen. So kann bei der Konfliktanalyse, die häufig für die Bearbeitung aktueller politischer Konflikte eingesetzt wird, ein Kranz von Begriffen wie "Recht" und "Macht" und "Ideologie" für die Analyse genutzt werden – der klassische Katalog enthält zwölf aufschließende Kategorien.
Die Zahl kann aber auch geringer sein und schließlich kann sich die Analyse auch auf die Inszenierung der Kontroverse (in einem Pro-/Kontra-Streitgespräch oder in einem Rollenspiel) konzentrieren. Die Grundidee der Konfliktanalyse bleibt gleich und ihre Durchführung wird den Lerngruppen angepasst.
Die Demokratie gehört ihren Bürgern und sie ist auf ihre Bürger angewiesen. Deshalb ist Bildung für die Demokratie für alle Bürger und Bürgerinnen so wichtig! Und deshalb verdienen alle politischen Bildner und alle Lehrer und Lehrerinnen unsere Loyalität und unsere Unterstützung!
Sibylle Reinhardt nimmt teil am Demokratie-Kongress der Konrad-Adenauer-Stiftung zum Thema Demographie am 21. November in Bonn. Tagesspiegel.de veröffentlicht diesen Beitrag im Rahmen einer Demographie-Diskussion in Kooperation mit der KAS.
Sibylle Reinhardt