Die Türkei nach dem Grubenunglück: Das System Erdogan
Nach dem Grubenunglück und den tätlichen Angriffen auf Demonstranten steht Recep Tayyip Erdogan in der Türkei erneut stark unter Druck. Doch der Ministerpräsident verfügt über ein Geflecht aus Beziehungen und Loyalitäten, das ihn politisch fast unangreifbar macht.
In einem anderen Land wäre nach einem Unglück wie dem im westtürkischen Soma mit rund 300 Toten inzwischen vermutlich das halbe Kabinett zurückgetreten oder gefeuert worden. In der Türkei kann der Ministerpräsident in den Unglücksort fahren, von der Unvermeidlichkeit von Grubenunfällen reden und dann auch noch einen Bergmann schlagen, weil dieser ihm frech vorkommt. Ein Berater des Ministerpräsidenten tritt unterdessen einen am Boden liegenden Demonstranten. Alle sind noch im Amt und werden es wahrscheinlich auch bleiben.
Nach Soma zeigt sich einmal mehr, in welchem Maß Regierungschef Recep Tayyip Erdogan in der Türkei nach Belieben schalten und walten kann. Das System Erdogan basiert zum Teil auf Angst – Angst vor der Regierung, vor der Polizei, vor Erdogan persönlich. Fest steht, dass der Premier viel Druck ausübt. So ruft er die Fernsehredakteure regierungsnaher Privatsender an und verlangt, sie sollten nicht so viel über die Opposition berichten. Dahinter steht die Drohung, die Besitzer der Sender – meist Geschäftsleute, die auf Staatsaufträge hoffen – könnten andernfalls das Wohlwollen Ankaras verlieren. Das Ergebnis ist eine meist sehr unkritische Berichterstattung über die Regierung in den großen Medien.
Mehr als jeder zehnte Türke gehört der AKP an
Potenzielle oder tatsächliche Gegner werden ebenfalls eingeschüchtert, wenn auch nicht immer mit Gewalt. Ein Konzern, der in einem seiner Hotels den Demonstranten vom Gezi-Park im vergangenen Jahr Zuflucht gewährte, bekam prompt Besuch von der Steuerfahndung.
Wichtig für das System Erdogan ist auch das enge Geflecht aus Beziehungen und Loyalitäten zwischen Regierungspartei, Ämtern und Bürokratie. Die Erdogan- Partei AKP hat acht Millionen Mitglieder, mehr als jeder zehnte Türke gehört ihr an. Die größte Oppositionspartei kommt nicht einmal auf eine Million Mitglieder. Und Erdogan ist sehr loyal zu denen, die zu ihm stehen. Sein Berater Yusuf Yerkel, der in Soma den wehrlosen Mann am Boden trat, durfte den Premier demonstrativ zum Freitagsgebet begleiten, gut sichtbar für die Fotografen.
Viele tausend Beamte in der Türkei verdanken ihre Karrieren und Posten der AKP oder dem Ministerpräsidenten persönlich. Filz? Aus westeuropäischer Sicht vielleicht. In der Türkei gehört diese Art von Einflussnahme zur Tradition, nur waren die meisten Regierungschefs vor Erdogan nicht lange genug im Amt, um ebenso weit verzweigte Netze aufzubauen. Was den Blick auf einen weiteren Bestandteil des Systems lenkt: Die Unfähigkeit der Opposition, Erdogan trotz Gezi-Protesten und Korruptionsaffäre ins Wanken zu bringen, spricht für sich.
Kleinbürgerliche Herkunft kommt gut an
Auch Erdogans Persönlichkeit spielt eine große Rolle. Er versteckt seine Herkunft aus kleinbürgerlichen Verhältnissen nicht, er trägt sie stolz zur Schau, den schroffen Umgangston aus seinem Istanbuler Heimatviertel Kasimpasa inklusive. Wenn er seine politischen Gegner angreift, fällt er regelmäßig vom „Sie“ ins „Du“, seine Formulierungen sind deftig. Das gefällt vielen Leuten, Erdogan erscheint so wie ein einfacher Mann aus dem Volk.
Dennoch hat er in Soma einen Fehler gemacht. Die Opfer des Grubenunglücks sind typische AKP-Wähler aus der unteren Mittelschicht. Sein verunglückter Auftritt in der Bergarbeiterstadt könnte ihn Sympathien bei Stammwählern kosten. Die Frage ist nun, ob sich dies bei der Präsidentenwahl im August negativ für ihn auswirken wird. Das System Erdogan wird alles daran setzen, das zu verhindern.