Grubenunglück in Türkei: Gewerkschaften und Opposition sehen Schuld der Regierung
Nach dem Grubenunglück in Soma liegt die Zahl der Todesopfer mittlerweile bei über 270. Bergleute, Gewerkschaften und Opposition geben die Schuld für die Katastrophe der Regierung. In Ankara kam es zu Zusammenstößen zwischen Demonstranten und Polizei.
Die Zahl der Toten bei dem Grubenunglück in der Türkei ist auf am Mittwoch auf 274 gestiegen. Das berichteten türkische Fernsehsender am Mittwochabend unter Berufung auf die Behörden. Hunderte Kumpel wurden weiterhin vermisst. Es ist das schwerste Grubenunglück nicht nur in der Türkei, sondern weltweit seit 1975. Damals waren in einem Bergwerk in der türkischen Provinz Zonguldak bei einer Gasexplosion 263 Menschen ums Leben gekommen. Die Regierung in Ankara rief wegen des Unglücks am Dienstag im Kohlekraftwerk Soma in der Provinz Manisa eine dreitägige Staatstrauer aus. Im ganzen Land und an den Vertretungen im Ausland wurden am Mittwoch die Flaggen auf halbmast gesetzt. Energieminister Taner Yildiz machte am Mittwochvormittag auf Nachfrage von Reportern keine Angaben zu der genauen Zahl der Kumpel, die noch unter Tage eingeschlossen sind. Yildiz hatte zuvor nach Angaben der Nachrichtenagentur Anadolu gesagt, insgesamt seien zum Zeitpunkt des Unglücks am Dienstagnachmittag 787 Arbeiter in der Zeche gewesen. Der Verbleib von 363 Arbeitern sei geklärt. Darunter seien auch die Toten sowie 80 Verletzte.
Demonstranten: Das war kein Unfall, das war ein Verbrechen
Sami Kilic hat die Katastrophe mit eigenen Augen gesehen. „Die Überlebenschancen sind weniger als Null“, sagt der türkische Bergarbeiter am Mittwochmorgen vor der Kohlegrube im westtürkischen Soma. Nach offiziellen Angaben sind zu diesem Zeitpunkt rund 200 Todesopfer geborgen worden, mehrere hundert Bergarbeiter konnten gerettet werden. Doch Kilic, der an den Rettungsarbeiten tief unter Tage teilgenommen hat und jetzt mit rußverschmiertem Gesicht unter seinem gelben Bergarbeiterhelm vor der Kamera eines türkischen Fernsehsenders steht, sieht noch kein Ende des vielleicht schlimmsten Bergwerkunglücks der türkischen Geschichte: „300, 350 oder 400 Arbeiter sind da unten noch eingeschlossen“, sagt er.
Während Kilic spricht, marschieren auf den Straßen mehrerer türkischer Städte bereits Demonstranten, um gegen die Regierung zu protestieren. An vielen Universitäten des Landes finden schon am Morgen spontane Mahnwachen und Protestkundgebungen statt. “Das war kein Unfall, das war ein Verbrechen”, steht auf Schildern, die Studenten der Arel-Uni bei Istanbul neben zwei Arbeitshelmen und einigen Nelken aufgestellt haben, und: “Wir wollen nicht bei Arbeitsunfällen sterben.”
In der Hauptstadt Ankara geht die Polizei am Nachmittag mit Tränengas und Wasserwerfern gegen mehrere Hundert Demonstranten vor, die zum Energieministerium vordringen wollten. Die Nachrichtenagentur Anadolu meldete, aus den Reihen der Demonstranten seien Molotow-Cocktails und Steine geworfen worden. Die Sicherheitskräfte hätten über Megafon auf die von der Regierung verfügte Staatstrauer für die Opfer der Katastrophe hingewiesen.
Studentin: Das Leben zählt nichts in unserem Land
Landesweit rufen Studentengruppen zu einem Unterrichtsboykott auf. Das Leben zähle nichts in ihrem Land, sagt eine Studentin in Ankara bitter. In Istanbul besetzen junge Leute eine U-Bahnstation im Zentrum, indem sie sich wie tot kreuz und quer in die Flure legen und die Wege blockieren.
Am Tag nach der Explosion eines Trafos im Soma-Bergwerk rund 400 Meter unter Tage bleiben die Ausmaße des Grubenunglücks lange unklar. Der aus Ankara herbei geeilte Energieminister Taner Yildiz räumt ein, dass die Zeit gegen die Retter laufe und dass mit einer steigenden Zahl der Opfer zu rechnen sei. „Unsere Hoffnungen sinken“, sagt der Minister. Ankara ruft eine dreitägige Staatstrauer aus, die Staatsanwaltschaft leitet Ermittlungen ein.
Das Feuer in dem Trafo ließ in dem Bergwerk den Strom ausfallen – Aufzüge und Frischluftversorgung funktionierten nicht mehr. Der Zufall wollte es, dass sich das Unglück beim Schichtwechsel ereignete, als fast 800 Beschäftigte in der Grube waren.
Schwerstes Bergwerksunglück in der türkischen Geschichte?
Selbst die Retter sind nicht sicher. Als Bergungsmannschaften am Vormittag einen schwer verletzten Mann aus der Grube holen, verbreitet sich bei den verzweifelten Angehörigen vor dem Bergwerk zunächst die Hoffnung, dass die Eingeschlossenen vielleicht doch noch eine Chance haben. Doch dann stellt sich heraus, dass der Mann auf der Trage das Mitglied einer Rettungsmannschaft war – und dass er kurz nach seiner eigenen Rettung seinen Verletzungen erlegen ist. Die Türkei könnte vor dem schwersten Bergwerksunglück ihrer Geschichte stehen. Im Jahr 1992 starben 263 Arbeiter bei einem Unglück an der Schwarzmeerküste – diesmal könnte die endgültige Opferzahl noch darüber liegen.
Auch Bergarbeiter Kilic hat kaum noch Hoffnung für seine Kollegen. In den Schächten sei es eng und heiß, berichtet er, beißender Rauch mache das Atmen schwer. Das Feuer brenne weiter. Fernsehsender berichten, das Kühlhaus, in dem die Leichen gesammelt werden, sei bereits voll, weil inzwischen schon 300 Todesopfer dorthin gebracht worden seien – also weit mehr als offiziell zugegeben. Die Religionsbehörden rufen aus den angrenzenden Landkreisen 80 muslimische Geistliche zum Sondereinsatz, um die vielen anstehenden Beisetzungen bewältigen zu können. Im Internet kursieren Fotos von Lastwagen mit hastig aufgeladenen Särgen.
Es scheint, als werde die Regierung von der brutalen Realität in der Arbeitswelt ihres Landes überrascht. Als gemeldet wird, unter den Todesopfern sei ein erst 15 Jahre alter Junge, der in der Grube arbeitete, antwortet Energieminister Yildiz: „Das gibt’s nicht.“ Über die genaue Zahl der Arbeiter, die sich zur Zeit des Unglücks unter Tage aufhielten, will der Minister lieber nichts sagen. Möglicherweise waren illegale Arbeiter darunter. „Wieviele Menschen müssen noch sterben, bis du zurücktrittst?“ wird der Minister auf Twitter gefragt. Yildiz bleibt im Amt.
Wie konnte das nur geschehen? fragt die ganze Türkei an diesem Tag. Das Land hat in den vergangenen zehn Jahren einen Atem beraubenden Wirtschaftsaufschwung erlebt, das Bruttoinlandsprodukt hat sich verdreifacht, Millionen von Türken können sich zum ersten Mal in ihrem Leben ein eigenes Auto oder eine neue Wohnung leisten.
Wirtschaftsboom unter teils lebensgefährlichen Bedingungen
Doch der Boom lief auf dem Rücken vieler Beschäftigter ab, die unter teils lebensgefährlichen Bedingungen schuften mussten und müssen. Das gilt vor allem für Zweige wie die Bauindustrie, den Schiffsbau und eben den Kohlebergbau. Allein in der Grube in Soma sollen seit September 2012 bei mehreren kleineren Unfällen insgesamt 22 Bergleute ums Leben gekommen sein – jedes Mal waren wie jetzt auch Brände unter Tage die Ursache.
„Das täglich‘ Brot liegt in der Rache des Löwen“, sagt ein türkisches Sprichwort. Nach Erkenntnissen der Organisation „Eine Hoffnung“, die Berichte über Arbeitsunfälle sammelt, sterben in der Türkei jeden Tag drei bis vier Arbeiter bei einem Unfall. Im vergangenen Jahr zählte der Verband insgesamt 1235 Tote. Laut einer wissenschaftlichen Untersuchung aus dem Jahr 2008 ist es um die Sicherheit in türkischen Bergwerken noch schlimmer bestellt als in China: Demnach ist in China pro Million Tonnen geförderter Kohle ein Todesopfer zu beklagen – in der Türkei sind es sieben.
Insbesondere unter Studenten und jungen Akademikern in der Türkei wächst seit einiger Zeit der Unmut gegen die Missachtung jeglicher Arbeiterrechte beim rasanten Wirtschaftswachstum. Eine neue Jugendbewegung frommer und gebildeter Muslime macht seit zwei Jahren gegen die islamisch-konservative Regierung von Recep Tayyip Erdogan mobil, deren religiösen Anstrich sie als “Kapitalismus mit ritueller Waschung” kritisiert. “Sie beuten die Arbeiter aus und gehen dann zum Gebet”, wirft ein Studentenführer aus der Bewegung der “Antikapitalistischen Muslime” der Regierung vor, “Wenige Leute werden unter ihnen reich, während alle übrigen kaum überleben können. Sie saugen das Blut der Arbeiter.”
Ärger über Erdogans Regierung flammt wieder auf
Die “Antikapitalistischen Muslime” waren auch bei den Gezi-Protesten gegen die Regierung im vergangenen Jahr mit von der Partie. Nach dem Unglück von Soma ist spürbar, dass der „Geist von Gezi“ und Ärger über Erdogans Regierung erneut aufflammt. Mehrere Organisationen rufen zu Protesten gegen die Regierung auf, Schüler und Studenten treten in einen Streik. „Wir kennen die Mörder“, schimpft ein Erdogan-Gegner auf Twitter.
Auch vor dem Istanbuler Verwaltungsgebäude des Bergbaubetreibers Soma Kohlenförderung gibt es am Mittwoch Proteste. “Mörder” hatten Aktivisten schon in der Nacht mit blutroter Farbe auf die weiße Wand des Bürogebäudes im Istanbuler Banken- und Geschäftsviertel Levent gesprüht. Vor der Eingangstüre campieren im Sitzstreik eine Gruppe junger Leute, die Passanten und Fahrern handgeschriebene Schilder mit ihren Parolen entgegen recken. “Das ist kein Schicksal, das ist ein Verbrechen”, steht auf einem Schild.
Das gilt nicht nur für Soma. Im westtürkische Bursa starb erst vor zwei Wochen ein 15jähriger – er wurde von einer zwei Tonnen schweren Ladung von Eisenträgern erschlagen, die beim Abladen ins Rutschen geraten waren. Auf den Werften im Nordwesten des Landes wurden alleine in den vergangenen Jahren über 150 Arbeiter getötet – zwei davon, als sie an der Stelle von Sandsäcken als lebender Ballast bei Materialtests in ein Beiboot steigen mussten. Beim Bau eines Einkaufszentrums in Istanbul verbrannten vor zwei Jahren elf Bauarbeiter in dem Zelt, in dem sie auf der Baustelle schliefen - die deutschen Bauherren verwiesen auf die türkischen Subunternehmer.
Ganze Dörfer voll sterbender junger Männer
Ganze Dörfer im Südosten des Landes sind voller sterbender junger Männer, die bei der Herstellung modischer gebleichter Jeans in Istanbul am Sandstrahler standen und sich dabei tödliche Staublungen eingehandelt haben. Mehr als 50 jugendliche Männer sind schon daran gestorben, hunderte weitere siechen dem sicheren Tod entgegen. Sie waren nicht nur ungeschützt, sondern auch unversichert – Hoffnung auf eine rettende Transplantation gibt es für sie nicht.
Diese schrecklichen Schicksale sind kein Zufall, sagen Opposition und Gewerkschaften. Sie werfen der Regierung von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan unter anderem vor, sie habe bei der Privatisierung von Bergbauunternehmen und anderswo nicht auf die Einhaltung von Sicherheitsvorkehrungen geachtet. Die Beschäftigung von vielen kleinen Subunternehmern durch die Bergbauunternehmen sorgt für ein Wirrwarr, das von den relativ wenigen staatlichen Kontrolleuren kaum zu durchschauen ist. Die Subunternehmer zahlen meist unter Tarif.
Ob er denn trotz des Unglücks von Soma weiter im Bergbau arbeiten wolle, wird ein Überlebender vor der Grube im Fernsehen gefragt. „Na klar“, sagt der Mann. „Andere Jobs gibt’s hier doch nicht.“
Regierung bügelte Untersuchungs-Anträge ab
Verschlimmert wird die Lage durch eine „Wird schon nichts passieren“-Haltung in Ankara: Erst Ende April brachte die Oppositionspartei CHP im Parlament einen Antrag auf Untersuchung der Missstände in Soma ein. Erdogans Regierungspartei AKP bügelte den Antrag ab.
Eine angemessene Gefahrenzulage erhalten die Bergarbeiter nicht, sie haben am Monatsende umgerechnet rund 300 Euro in der Lohntüte. „Mein Tagesverdienst reicht dem Ministerpräsidenten gerade einmal fürs Frühstück“, sagt ein Bergarbeiter. Der Wirtschaftswissenschaftler Aziz Celik bringt die Vorwürfe der Regierungsgegner auf den Punkt: Das Unglück von Soma sei ein „Massaker an den Arbeitern“.
Fatalismus der türkischen Gesellschaft
Doch die monatlichen Bilanzen von tödlich verunglückten Arbeitern wurden von der Öffentlichkeit bisher sters relativ gleichmütig hingenommen. Einer der Gründe dafür ist ein gewisser Fatalismus der türkischen Gesellschaft. Nur jeder vierte Türke glaubt nach einer wissenschaftlichen Studie daran, dass er sein Schicksal beeinflussen kann, sei es durch einen Helm, einen Sicherheitsgurt im eigenen Wagen, eine erdbebenfeste Bauweise des Eigenheims oder auch durch Aufbegehren, Protest und Revolution.
“Was soll es nützen, wenn ich schreie, sie werden mich ja doch nicht hören”, schrieb der türkische Dichter Metin Altiok schon vor Jahrzehnten in einem Gedicht über die Bergarbeiter. Am Tag nach dem Unglück von Soma macht eine Fernsehaufnahme von den Rettungsarbeiten die Runde, die diese geduldige Gefügigkeit der türkischen Arbeiter bildlich ausdrückt. Ein erschöpfter und verrußter Kumpel, knapp dem Tod von der Schippe gesprungen, wird da von Sanitätern auf eine Trage geladen. “Soll ich nicht erst die Stiefel ausziehen?”, fragt der Mann. “Ich will ja nichts verdrecken.”
Am frühen Nachmittag trifft Erdogan in Soma ein. Mit versteinerter Miene geht er mit seinem Tross und umringt von Polizisten und Soldaten zum Eingang der Unglücksgrube. Zu diesem Zeitpunkt liegt die offizielle Zahl der Opfer bei 232. Oppositionspolitiker sprechen von bis zu 350 Toten, denn 120 Kumpel sind noch unter Tage eingeschlossen.
Erdogan redet einige Minuten lang mit einigen Bergarbeitern und schüttelt Hände, dann macht er sich mit seinen Ministern schweigend wieder auf den Rückweg. Später spricht der Premier bei einer Pressekonferenz von einem „sehr großen Schmerz“, würdigt die Arbeiter, die „im Schweiße ihres Angesichts ihr Brot verdienen“ und lobt die Rettungsteams, die schnell vor Ort gewesen sein. Seine Regierung werde herausfinden, was genau geschehen sei, verspricht er. Selbst für die respektvolle Haltung Opposition hat er ein gutes Wort.
Doch Demut ist Erdogans Sache nicht. Auf kritische Fragen von Journalisten rattert der 60-jährige hohe Opferzahlen bei Grubenunfällen in anderen Ländern herunter, um das Unglück von Soma zu relativieren. Unter anderem verweist er auf Unglücke in England des 19. Jahrhunderts. „Es gibt kein Bergwerk ohne Unfall. So etwas kommt vor.“ In einer anschließenden Rede in Soma äußert er sich ähnlich.
Das geht den Angehörigen der Bergleute in Soma denn doch zu weit. Als Erdogan die Stadt verlässt, wird sein Fahrzeugkonvoy von einer wütenden Menge mit Tritten traktiert. „Ministerpräsident, tritt zurück“, skandieren die Menschen. Die Polizei nimmt mehrere Demonstranten fest. (mit AFP/dpa)