Grubenunglück in Soma: Die Wut der Türken auf Erdogan wächst
Erst nannte der türkische Premier das Grubenunglück von Soma unvermeidlich, jetzt trat auch noch einer seiner Berater auf einen Demonstranten ein. Die Angelegenheit entwickelt sich für Erdogan zum politischen Erdbeben.
Ein junger Mann in einem gut geschnittenen Anzug und mit wutverzerrtem Gesicht gehörte am Donnerstag zu den meist diskutierten Personen der Türkei: Yusuf Yerkel, 32, Berater von Ministerpräsideent Recep Tayyip Erdogan, wurde dabei fotografiert, wie er auf einen am Boden liegenden Demonstranten eintrat. Und zwar nicht irgendwo, sondern in Soma, jener westtürkischen Bergarbeiterstadt, in der sich am Dienstag das schlimmste Grubenunglück in der Geschichte des Landes zugetragen hatte. Yerkels Tritt wurde für Erdogan-Gegner zum Symbol der Arroganz und Rücksichtslosigkeit der Regierung.
Der Premier wollte lieber nicht erkannt werden
Erdogan hatte Soma am Mittwoch besucht und die Leute in der Stadt gegen sich aufgebracht, indem er Grubenunglücke als unvermeidlich bezeichnete – angesichts von fast 300 Toten eine merkwürdige Form der Anteilnahme. Darauf brandete Protest auf in den Straßen der Stadt, Demonstranten traten Wagen aus Erdogans Fahrzeugkonvoys. Am Rande der Proteste rastete Yerkel aus und trat zu.
Die Leibwächter des 60-jährigen Premiers montierten unterdessen sicherheitshalber das Nummernschild mit der Protokollziffer „0002“ vom Dienstwagen des Premiers ab, damit dieser von den wütenden Menge nicht als Fahrzeug des Regierungschef erkannt werden konnte. Erdogan soll vorübergehend Schutz in einem Supermarkt gesucht und dort einen Mann geohrfeigt haben – eindeutige Beweise dafür lagen am Donnerstag allerdings nicht vor.
In zehn Jahren kamen mehr als tausend Kumpel ums Leben
Erdogans Äußerungen und Yerkels Tritt fachten die Spannungen im Land an, in dem nach dem Unglück ohnehin bereits eine aufgeheizte Stimmung herrschte. Angehörige von vermissten Bergarbeitern in Soma schimpften über die Besuche der Politiker. „Gebt uns erstmal unsere Toten“, riefen einige. Immernoch wurden am Donnerstag mehrere Dutzend Kumpel vermisst; die Opposition geht von rund 350 Todesopfern insgesamt aus. Niemand weiß, wieviele Bergarbeiter genau sich in der Grube aufhielten, als am Dienstagnachmittag unter Tage ein Trafo explodierte, ein Feuer auslöste und die Strom- und Frischluftversorgung lahmlegte.
Das Unglück wirft ein Schlaglicht auf die Risiken im türkischen Bergbau und in anderen Wirtschaftszweigen. Nach Angaben der Internationalen Arbeitsorganisatioon (ILO) leben Arbeiter in der Türkei gefährlicher als in allen anderen europäischen Ländern. Zwischen den Jahren 2002 und 2012 kamen demnach mehr als 1000 türkische Bergarbeiter bei Grubenunglücken ums Leben.
Unter Tage gibt es kaum Schutzräume
Kritiker werfen der Regierung Erdogan vor, bei der Privatisierung von staatlichen Kohlebetrieben in den vergangenen Jahren die Arbeiterrechte ignoriert zu haben. Der Bergwerksbetreiber von Soma, die Soma Holding, lobte sich nach Presseberichten selbst dafür, die Produktionskosten pro Tonne Kohle von 140 US-Dollar auf unter 30 Dollar gesenkt zu haben. Das ging auf Kosten der Sicherheit, sagen Kritiker.
Die Zeitung „Hürriyet“ berichtete am Donnerstag, die Türkei gehöre zu den wenigen Kohleförderländer in der Welt, in denen es unter Tage kaum Schutzräume für Bergarbeiter gebe, die im Fall eines Unglücks wie in Soma dort mit Frischluft, Wasser und Kommunikationsmitteln versorgt werden könnten. Mit einer Investition von nur fünf Millionen Dollar hätten alle Bergarbeiter von Soma mit diesen Schutzräumen gerettet werden können, rechnete das Blatt seinen Lesern vor. Die ILO-Konvention zur Sicherheit in Bergwerken hat die Türkei bisher nicht unterzeichnet.
Wieder trifft nicht der Premier, sondern Präsident Gül den Ton
Dabei ist die Kohleindustrie für die Türkei sehr wichtig. Das Land fördert rund 73 Millionen Tonnen Kohle im Jahr, von denen ein Großteil in die Stromherstellung geht: Der ständig steigende Energiebedarf der Türkei wird zu etwa einem Drittel mit Kohlekraftwerken gedeckt. „Andere Länder haben den Bergbau sicherer gemacht, aber die Türkei nicht“, sagt der Wirtschaftswissenschaftler und Autor Mustafa Sönmez. Im Zuge der Privatisierungen seien auch die Gewerkschaften geschwächt worden, so dass die Arbeitnehmervertreter nicht in der Lage seien, strengere Sicherheitsvorkehrungen durchzusetzen.
Anders als Erdogan zeigte Staatspräsident Abdullah Gül am Donnerstag bei seinem Besuch in Soma Verständnis für die Wut und Verzweiflung der Betroffenen und forderte, die Sicherheitsbestimmungen müssten überarbeitet werden. Schließlich gehörten katastrophale Grubenunglücke „in entwickelten Staaten“ inzwischen der Vergangenheit an, sagte Gül – eine klare Spitze gegen Erdogans Motto „So etwas passiert halt“.
Das Unglück ist ein Rückschlag für Erdogans Ehrgeiz
Wenige Monate vor der Präsidentenwahl im August – bei der Erdogan antreten und Gül beerben will - demonstrierte der Amtsinhaber damit in aller Öffentlichkeit, wie man sich als Staatsoberhaupt zu verhalten hat: als Versöhner, nicht als Spalter. Das Fernduell über die frischen Gräber von Soma hinweg wird den Spekulationen über die künftige Besetzung des Präsidentenamtes neuen Auftrieb geben. Gül macht keinen Hehl daraus, dass er gerne noch einal für eine fünfjährige Amtszeit kandidieren würde. Eine Entscheidung zwischen Gül und Erdogan als Kandidat der Regierungspartei AKP soll in den kommenden Wochen fallen.
Der Umgang mit dem Soma-Unglück ist ein Rückschlag für Erdogans Ambitionen. Die Regierung habe die Reaktion in allen Bereichen in den Sand gesetzt, schrieb eine Kommentatorin am Donnerstag auf Twitter: „inhaltlich, moralisch und von der Außenwirkung her auch.“
Erdogans Getreue dürften ihm weiter die Stange halten
Erdogans Rede und der Fußtritt seines Beraters bildeten eine zusätzliche Motivation für zehntausende Demonstranten, die aus Protest gegen die Regierung auf die Straße gingen und neue Gewalteinsätze der Polizei auslösten. Allein in der westtürkischen Stadt Izmir beteiligten sich nach Medienberichten rund 20.000 Menschen an einem Protestmarsch.
Doch Rückschlüse auf etwaige Verluste für Erdogan an der Wahlurne lassen sich daraus nicht unbedingt ziehen, sagte Emre Deliveli, Wirtschaftskolumnist der Zeitung „Hürriyet Daily News“, dem Tagesspiegel. „Die Demonstranten, die jetzt auf den Straßen sind, hätten Erdogan ohnehin nicht gewählt“, sagte er. Deliveli hält es für unwahrscheinlich, dass sich Erdogan-treue Wähler in Massen von dem Regierungschef abwenden werden.